Heute: Christian Buß, freier Autor und Mitarbeiter der „taz hamburg“, begegnet zum ersten Mal dem Rock'n'n Roll. Der riecht nicht gut und sieht noch viel schlechter aus

Orte und Gerüche werden wohl immer große Geheimnisse für mich bleiben. Die häßlichsten Plätze ziehen mich magisch an, der widerlichste Gestank kann mich betören. Doch manchmal dämmert es mir, wann alles seinen Anfang nahm. Das muß 1984 gewesen sein. Ein gutes Jahr, denke ich, wenn ich mich gut fühle. Ein schlechtes Jahr, sage ich, wenn es mir schlecht geht. Denn irgendwie wurden hier alle Weichen gestellt für mein weiteres Leben. Ist natürlich großer Quatsch, aber gelegentlich brauchen wir ja alle mal eine Erklärung für das, was wir sind. Und mir kommt die dann immer ganz passabel vor.

Vollkommen wahr hingegen ist die Behauptung, daß ich damals zum erstem mal im kir gewesen bin, zu jener Zeit ein enorm potenter Indierock-Betrieb. Mein Freund Martin und ich waren so um die 15, und die Fahrt in die Stadt gab einem immer ein bißchen das Gefühl, als würde man bei seinen Eltern ausziehen. Irgendwann fuhren wir beide mit der S-Bahn ins kir, weil dort diese Bands spielten, die alle anderen Jungs und Mädchen auf unserer Schule scheiße fanden, wenn wir sie ihnen vorspielten und die deshalb für uns natürlich nur um so heller strahlten. Biff Bang Pow! war der Name der einen, The Jasmine Minks der der anderen, außerdem trat noch eine Band auf, die sich The Jesus And Mary Chain nannten, die wir aber noch nicht kannten.

Ich erinnere mich ziemlich genau an diesem Abend, weil ich da zum ersten Mal diesen Geruch in der Nase hatte, der süffig auf die kalte Oktober-Luft drückte und der für mich fortan der Odeur des Abenteuers sein sollte. Wie ich später herausfand, war es der Geruch von gärendem Bier aus der benachbarten Holsten-Brauerei. Und wenn heute jemand die Redewendung benutzt, es liege etwas in der Luft, wundere ich mich jedesmal, daß ich trotz aller Anstrengung kein Holsten riechen kann.

Ja, nach diesem Abend war nichts mehr wie zuvor. Aber das lag nicht an den Bands, die Martin und ich schon von Platten kannten: The Jasmine Minks waren nur mittelmäßig, und von Biff Bang Pow! haben wir nur ein paar Minuten mitbekommen, weil wir dann losrennen mußten, um die letzte Bahn zu bekommen. Was zwischen diesen beiden Auftritten passierte, sollte mein Leben verändern. Vielleicht auch retten.

Eigentlich war der Auftritt von The Jesus And Mary Chain nur sowas wie eine musikalisch unterlegte Umbaupause, kaum 20 Minuten lang, aber er zeigte mir, wie wunderschön es sich anfühlen konnte, wenn man das richtige Ventil findet, um seinen Schmerz abzulassen. Damals begegnete ich zum ersten Mal dem Rock'n'Roll. Der roch nicht gut - und sah noch viel schlechter aus. Wie zwei reudige Pudel, um genau zu sein. Doch die Brüder William und Jim Reid, die mit zum Himmel getürmten Locken im fahlen Licht posierten, trafen meinen Nerv. Sie schlugen die Gitarren gegen die Mikroständer, manchmal taten sie so, als ob sie sängen. Die Feedbacks brachen sich in allen Ecken des Clubs, ich war benommen. Und glücklich. Weder Martin noch ich wußten, was da genau passierte, aber wir ahnten wohl, daß dieser legere Aktionismus auf der Bühne die letzte Rettung vor dem großen Nichts war. Mitmachen oder entmaterialisieren - eine andere Alternative gab es nicht. Einen Monat nach dem kir-Konzert brachten The Jesus And Mary Chain ihre erste Single heraus. Die englische Presse fand, sie sei eine Revolution.

Doch die Revolutionäre sind müde geworden, und das letzte Mal, als ich etwas von The Jesus And Mary Chain gehört habe, sangen sie „I Hate Rock'n'Roll“. Das war gut zehn Jahre später. Ich wohnte zu dieser Zeit in der Stresemannstraße, was hilfreich war. Denn so mußte ich einfach nur meine Balkontür aufmachen und eine tiefe Brise Luft mit dem Duft von gärendem Holsten einatmen, um zu wissen: Irgendwo da draußen stinkt er weiter, der Rock'n'Roll.

Christian Buß