Das große Trotzdem

■ Yolande Zauberman überrascht im Kino 46 mit „Ivan und Abraham“, eine filmische Ausgrabung des jiddischen Schtetls

Wahrscheinlich hat Yolande Zauberman den erfolgreichen Teenienightmare „Clubbed to death“nur gedreht, damit ihr erster Spielfilm „Ivan und Abraham“endlich die ihm gebührenden Chancen im Verleih erhält. Denn der 1993 entstandene Film trägt nicht nur die schwere Bürde von Schwarzweiß, sondern auch die eines sogenannten sperrigen Sujets. In Fotoformat zwar ist das jiddische Schtetl, aus Roman Vishniacs Mantelloch fotografiert, durchaus erfolgsträchtig, aber wer will schon zwei Stunden lang eine vergessene Welt erkunden ohne Spielbergs Führung?

Und doch hatten es die Pressespiegelersteller des Kino 46 diesmal erstaunlich leicht. Seltsam emotional sind die statements der ironisch-reflektierenden Zunft über den leisen Film. Von „ungeheurer Kraft“, „wunderbar zurückhaltendem Stil“, „großartiger Lektion“, „hinreißender Schönheit“usw. ist die Schwärmerei. Ein Film, der ganz auf schöne Gesichter und die darunter schlummernden Emotionen setzt, hat also doch gewaltige Chancen, auch und gerade in Zeiten überbordender special effects und High-Tech-Ausstattungszaubers. Eben hat Jackie Chan in einem Spiegel-Interview vorhergesagt, daß dem Kinopublikum allmählich die Lust an technischer Aufwendigkeit abhanden gehen wird. Schließlich ist optischer Luxus nicht grenzenlos steigerbar. Und Jackie Chan hat immer recht.

„Ivan und Abraham“weiß von der jiddischen Dorfwelt das, was wir immer schon über sie wußten. Er erzählt vom 9jährigen Abraham, der seinen liebsten Freund verlassen soll, weil der ein Nichtjude, ein Goi, ist. Zusammen suchen sie das Weite. Und er erzählt von Rachel, die einen wildfremden Mann heiraten soll. Zusammen mit ihrem geliebten Kommunisten sucht sie das Weite.

Das Weite ist aber keine Rettung, wo Vorurteile und Regeln nicht nur das Geschehen innerhalb des kleinen Soziokosmos Schtetl regeln, sondern auch das Treiben in der Welt da draußen. Liebe und Freundschaft wirken in diesem Film so anrührend, weil sie sich in die Zwischenräume der diversen Ordnungen hineinschmuggeln und den Großvätern immer ein dickes, fettes Trotzdem entgegenrufen.

Eigentlich geht es gar nicht so sehr um die jiddischen Normen, sondern um Gefühle, die durch Widerstände erst zu leuchtender Sichtbarkeit getrieben werden. Es geht also um Leben, Bruder Abraham, Schwester Rachel. Deshalb läßt sich die Kamera viel lieber auf Gesichtern nieder, als neugierig das Schtetl zu erkunden.

Immer wieder kommen sich in diesem Film Menschen auf der Flucht nahe. Der allerbeste Freund aber ist die Kamera selbst. Nicht einmal einem fiesen Fürsten nähert sie sich journalistisch-inquisitorisch, sondern zeigt ihn mitfühlend als müde vor sich hin träumendes Wesen, intim von der Seite wie eine kußwillige Frau. Süchtig scheint die Kameralinse nach Gesichtern zu sein. Einer für die Handlung komplett unrelevanten alten Serviererin in einer Schenke gönnt sie einen geduldigen, langsamen Schwenk. Dieser unhierarchische Blick muß es sein, der Zuschauer inklusive Presse zu schwärmerischen Superlativen rührte.

In Interviews erzählt die Regisseurin, wie sie die Handlung, von der Kernfigur Ivan ausgehend, Lebenskreis für Lebenskreis entwickelt hat,und dann in bekannten und unbekannten russischen und ukrainischen Schauspielerkreisen das nötige Personal auftrieb. Mindestens ein Ergebnis dieses budgetkargen, charakterreichen Films: Man fragt sich mit neuer Hartnäckigkeit, warum wir in deutschen Filmen müde Gesichter a la Wiesinger und Riemann zu ertragen haben. bk

Kino 46: Fr, Sa 20.30h, So-Di 18.15h