Mord im Rathaus

Der Enthüllungsroman zur Wahl. Teil 1: Die Leiche im Bürgermeisteramtszimmer  ■ Von Silke Mertins

Nackt lag sie da. Nackt und tot. Bürgermeister Henning Vrosche-rau* hatte sich selbst davon überzeugen können. Sie hatte nichts an und lag scheinbar schlafend unter seinem Schreibtisch. Ausgerechnet im Bürgermeisteramtszimmer. Hätte es nicht auch im Fraktionsbüro der CDU sein können? Oder in der Herrentoilette gleich neben dem Plenarsaal der Bürgerschaft? Oder im Pressezimmer? Aber nein, die Leiche mußte sich sein Büro aussuchen. Vroscherau sah seinen Senatssprecher Franz Groß vorwurfsvoll an. „Tja“, sagte der.

Die Rathausdiener im Foyer tuschelten aufgeregt. „Franz Groß wurde kurz nach der Tat mit verrutschter Krawatte gesehen“, wußte einer zu berichten. „Ach, Quatsch, der Mörder kommt aus der FDP“, hielt ein anderer dagegen. „Ein Mord ist fast immer eine Beziehungstat“, erklärte ein dritter, „die hatte bestimmt ein Verhältnis mit ...“Weiter kam er nicht, weil der Bürgermeister kam. Er schüttelte allen die Hand, wie es so seine Art ist, und wog bedächtig seinen Kopf hin und her, bevor er fragte: „Hier wird doch sicher Dienstliches besprochen, oder?“Alles nickte eifrig. Und da war er auch schon weg, der Vroscherau. Der SPD-Landesvorstand samt wichtiger Fraktionsmitglieder, das wußten die Rathausdiener, warteten in der Parteizentrale auf ihn.

„Eine Katastrophe!“jammerte Landeschef Jörg Ochsenbier dem Bürgermeister entgegen. Was soll jetzt bloß werden, so kurz vor der Wahl? Innensenator Hartmut Schocklage wurde rangewunken. „Du mußt jetzt ganz schnell was tun, Hartmut“, mahnte Ochsenbier. Im Hintergrund zischelte Genosse Walter Zett: „Das wäre das erste Mal, daß der was tut.“Wütend drehte Schocklage sich um. „Wer war das?“

„Ruhe!“brüllte es plötzlich in die klagende und mutmaßende Ansammlung von SozialdemokratInnen. Das war – ohgottohgott – der Bürgermeister. „Ich wünsche nicht, daß ihr euch benehmt wie die Klatschweiber“, entfuhr es ihm. Strenge feministische Blicke hagelte es von allen Seiten. Vrosche-rau war das heute egal. „Ich wäre euch sehr dankbar, wenn jeder einzelne von euch sich an der Schadensbegrenzung dieses tragischen Zwischenfalls beteiligen könnte.“Es folgte eine Kunstpause. „Das bedeutet vor allem, dem Bürgermeister den Rücken freizuhalten.“

Die Meute war nicht zu halten. „Wenn das an die Öffentlichkeit kommt“, quiekte Fraktionschefin Elisabeth Knausch. Genosse Zett brachte die Sache nüchtern auf den Punkt: „Die Leiche muß weg.“Alle blickten plötzlich auf den sichtlich angestrengten Wissenschaftssenator Leopold Laien. Hatte der nicht aufgrund des UKE-Skandals ohnehin ein paar Leichen im Keller? Wieder ergriff Walter Zett das Wort: „Um es ganz direkt zu sagen: Wir sollten sie Bausenator Eugen Wegner übergeben. Der kennt sich mit Beton aus.“Und wenn dem nichts einfiele, dann müsse eben ein Säurefaß angeschafft werden, um die Tote verschwinden zu lassen. „Es darf nichts kosten“, krähte Finanzsenator Ortwin Wunde dazwischen.

Wohin also mit der Leiche? Und wie sollte sie aus dem Rathaus abtransportiert werden? Eine Ambulanz wurde erwogen und verworfen. Ein Teppich kam ins Gespräch. Dann ein Koffer. Oder aber ein großes Möbelstück, etwa ein Schrank, könnte als Transportmittel dienen. Doch keiner der Anwesenden wollte so recht als Möbelpacker einspringen. Die Sozialdemokratinnen gaben zu bedenken, daß weibliche Träger zu auffällig seien. Die Männer erklärten im Chor, daß sie viel zu bekannt seien und die Journaille sofort Lunte riechen würde.

Bürgermeister Henning Vroscherau, der sich offenbar vom ersten Schrecken erholt hatte, stand auf und räusperte sich: „Franz, hol' schon mal den Wagen.“

Fortsetzung am Dienstag  

* Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind natürlich rein zufällig und vollkommen unbeabsichtigt.