Geld wog schwerer als Herkunft

■ Eine Biographie von Amsterdam und eine Reise durch die Geschichte

Der Mythos der meisten großen Städte Europas „ist vor allem der Mythos ihrer Monumentalität“, behauptet Geert Mak. Der Mythos Amsterdams dagegen sei „vor allem der Mythos seiner Mentalität“. Das Gesicht vieler Städte werde von einer Architektur und einem Baustil geprägt, der den Bürger zum Untertanen macht; Maßhalten sei dabei von Übel. Nicht so in Hollands Hauptstadt, wie der langjährige Redakteur des NRC Handelsblad in seinem Geschichtsbuch „Amsterdam. Biographie einer Stadt“ auf anschauliche Weise darlegt.

Amsterdams Reichtum, so erfahren wir, war immer still und diskret; hier ist eine Kultur entstanden, in der früher als anderswo Ehre weniger zählte als Besitz und Geld meist schwerer wog als Herkunft, Anstand oder Prestige. Sogar die reichsten Kaufleute verkniffen sich den Bau von Prunkbauten oder einen ausschweifenden Lebensstil. Auch hinter dem Konzept des weltberühmten Grachtengürtels haben in der Hauptsache praktische Motive gestanden.

Geert Mak führt seine Leser auf verschlungenen Pfaden durch die Stadt hinter der Stadt. Von einer konkreten Stadt konnte am 27. Oktober 1275 noch keine Rede sein, als Graf Floris von Holland einer kleinen Fischersiedlung „in der Nähe des Amsteldamms“ Zollfreiheit gewährte; es war der Tag, an dem der Name Amsterdam zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt wurde.

Amsterdam war am Ende jenes 13. Jahrhunderts laut Mak eine „unmögliche Stadt. Alles versank im Schlamm, der Hafen war nur über eine komplizierte Route voller Sandbänke und Gegenwind zu erreichen.“ Für Geert Mak wurde das wahre Amsterdam erst am 26. Mai 1578 geboren: an dem Tag, als die gegen die spanische Herrschaft kämpfenden „Geuzen“ das Mittelalter vor die Tür setzten und eine „moderne“ Mittelschicht in Amsterdam die Macht übernahm.

Historisch präzise und mit Anekdoten gespickt, erzählt der profunde Kenner Amsterdams, wie das kleine Fischerdorf, nicht zuletzt durch den Niedergang Antwerpens, zu einem der schärfsten Konkurrenten der Hanse aufstieg und – im „goldenen“ 17. Jahrhundert – zur Weltmacht wurde. Geert Mak führt seine Leser durch die Jahrhunderte und in die Privatgemächer von angesehenen Kaufleuten, Huren, Bürgermeistern, weltberühmten Malern und Bankiers. Wir erfahren, wie bereits 1618 ein gewisser Gaspard van Huten die erste regelmäßig erscheinende Zeitung der Welt herausbrachte und wie Hafenanlagen und hübsche Kontorhäuser errichtet wurden mit dem „Blutgeld“ aus den Kolonien.

Auch räumt der Autor auf mit dem Mythos vom durchweg reichen jüdischen Händler im 18. und 19. Jahrhundert sowie der Mär vom allumfassenden Widerstand der Amsterdamer gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Unerwähnt läßt der Amsterdamer Mak natürlich nicht den „Zwanzigjährigen Stadtkrieg“: eine Periode, in der zwar Namen, Kultur und Kleider der Hauptdarsteller wechselten, in der aber jugendliche Unruhe eine erstarrte Gesellschaft dauerhaft umgekrempelt hat. In Holland längst ein Klassiker, ist dieser Band eine Reise durch die faszinierende Geschichte einer Stadt wie durch das Leben einer entfernten Geliebten. Unbedingt empfehlenswert. Henk Raijer

Geert Mak, „Amsterdam. Biographie einer Stadt“. Siedler, Berlin 1997. 350 Seiten, 49,80 DM