Gesunden wie die Zaren

Ein Kururlaub auf der ukrainischen Halbinsel Krim, wo sich auch Breschnew, Gorbatschow und die „Dame mit dem Hündchen“ ein Stelldichein gaben. Nach den mageren Jahren läuft das Kurgeschäft wieder  ■ Von Barbara Kerneck

Wenn die Augusthitze überstanden ist, bricht die ideale Zeit an, um mit Badezeug, einem Frotteemorgenrock und einem leichten Wolljäckchen auf die Krim zu fahren. Die Zeit von Anfang September bis Mitte Oktober nennt man hier „Barchatny Seson“: Samtsaison. Für Katharina die Große war diese Halbinsel die „Perle“ in ihrer Krone, für sowjetische BürgerInnen und Bonzen die „Heilstätte der Union“. In und um den Kurort Jalta kultivierten sie, was der Russe einen „Kurortny Roman“ nennt. Wie so etwas funktioniert, beschrieb am besten Anton Tschechow in seiner Novelle „Die Dame mit dem Hündchen“. Sie handelt von einer Liebesaffäre, die in Jalta leichtfüßig beginnt. Allerdings entwickelte sie sich schon bald – schießlich haben wir es mit Tschechow zu tun – zu einer überaus ernsthaften Angelegenheit.

Am Krim-Südufer, wo das alpine Gebirge der Halbinsel zum Meer abfällt, klingen die Namen der Ortschaften nach Akazien und Oleander: Oreanda, Livadia, Feodossija. Wo bekommt man schon, wie hier, Berg-, Meeres- und Waldluft in einem Bündel, dazu noch angereichert mit Gewürz- und Heilkräuteraroma? Von dieser Mischung haben sich seit zweihundert Jahren Menschen mit Erkrankungen der Atemwege Rettung erhofft. Aber die Krim will sich nicht überspezialisieren. Natürlich können hier auch Knochenbrüche oder Lebensmüdigkeit geheilt werden. Zwischen Foros und Kertsch bieten heute wieder 86 Sanatorien ihre Dienste an.

Wer Anfang der 90er Jahre in ein typisches Erholungsheim für Werktätige kam, wie zum Beispiel in das „Aj Danijl“, wenig östlich von Jalta, der fand ein nahezu leeres Haus vor. Schilder ermahnen die „Genossen Erholungsuchenden“, gesittet den Speisesaal zu betreten und auf ihren Zimmern keine elektrischen Geräte zu benutzen. Nachdem die Krim der Ukraine zugefallen war, lebte die Mehrzahl der einst hier Gegängelten und Gepäppelten plötzlich im Ausland – in Sibirien oder Moldawien – und hatte ganz andere Sorgen. Für jene, die sich trotzdem hierher verirrten, war der Arztbesuch obligatorisch. Nur nach einer Eingangsuntersuchung erhielt man das Sanatoriumsbüchlein, in dem jede sogenannte „Prozedur“, ob nun Massage oder Inhalation, gewissenhaft abgehakt wurde.

Wie fast alle Krim-Sanatorien konnte das Aj Danijl einen Teil seines Kundenkontingentes aus den alten Partnerbetrieben zurückgewinnen. In der Hauptsaison bevölkern es Bergleute, Metallurgen und Petroingenieure von allen Ecken und Enden der GUS. Aber das Aj Danijl wirbt auch um den freien Markt. Eine Kombination von Doppelzimmer und ärztlichen Dienstleistungen kostet in der Hauptsaison 50 Dollar, ab September 30 Dollar. Die Zimmer sind, wie in diesen Breiten üblich, mit großen, windgeschützten Sonnenterrassen zum Meer hin ausgestattet. Das gediegene hölzerne Mobiliar ist vom Zahn der Zeit sichtlich ramponiert. Zum üblichen Angebot eines Krim-Sanatoriums gehören eine Schlechtwetter- Schwimmhalle und Tennisplätze. Im Falle des Aj Danijl kommen noch Baseballplätze hinzu. Wer glaubt, keine Untersuchung nötig zu haben, darf heute schon einmal ohne ärztliche Verordnung eine Schlammpackung genießen. Aber die hochqualifizierten MedizinerInnen und Schwestern haben über die mageren Jahre durchgehalten. Sie konnten sich ein Leben anderenorts nicht vorstellen.

Das Sanatorium liegt mitten in einem Naturschutzpark. Einst stand hier ein dem heiligen Daniel geweihtes Kloster. Aus der hauseigenen Quelle entspringt das sauberste Wasser weit und breit. Nicht umsonst tränkte an ihr früher der KGB seine überanstrengten Mitarbeiter. Der Oberarzt, ein Vertreter der postsowjetischen Generation, hat nichts dagegen, wenn jemand bloß für ein Wochenende herkommen möchte. Aber er legt doch Wert darauf, daß dies hier eine Heilstätte und nicht irgendein Hotel sei: „Nützen tut ein Aufenthalt unter zwei Wochen niemandem“, bemerkt er pikiert.

Auf der anderen Seite des Kurortes Jalta, westlich in den Bergen, liegt das Sanatorium Nischnaja Oreanda, wie eh und je das renommierteste Haus. Hierher reisten stets jene Leute, die auch in Kiew oder Moskau den Platz an der Sonne besetzten. Während ZK- Mitglieder und Tochter Galina im Haupthaus wohnten, regenerierte Leonid Breschnew seinen maroden Leib in einer Datscha am Rande des Sanatoriumsgeländes. Nischnaja Oreanda war der Lieblingsferienort dieses KPdSU-Generalsekretärs. Aber auch Prominenz aus Kunst und Wissenschaft, wie die Ballerina Olga Lepeschinskaja, der Raketen-Konstrukteur Sergej Koroljow oder der Dichter Konstantin Simonow nutzten die Dienstleistungen des Hauses. Wenn die Nomenklatura neue Führer hervorbrachte, so vergaßen sie nie, sich dieses Refugium ihrer Vorgänger warmzuhalten.

Die Zauberberge um Oreanda zogen schon die Zaren an. Der Reformer Alexander II. ließ sich ein wenig oberhalb der heutigen Erholungsanlagen zehn Jahre lang einen Palast bauen. Der wurde 1852 fertiggestellt, brannte aber schon 1882, ein Jahr nach der Ermordung des Zaren, bis auf die Grundfesten nieder. Stalins Architekt Michail Ginsburg baute schneller als der Zar, aber nicht weniger geräumig und pompös. Von 1948 bis 1952 entstand der sogenannte II. Korpus des Sanatoriums neben der ältesten Platane der Krim. Der Baum ist 1756 gepflanzt worden. Zwanzig GärtnerInnen pflegen heute die 47-Hektar-Parkanlage. Darüber hinaus verfügt das Sanatorium auch über eine eigene Farm. Sie produziert ökologisch Reines für Bonzenbäuche. Und so wurde im Speisesaal kürzlich eine revolutionäre Neuerung eingeführt: Hier gibt es jetzt jeden Mittag ein Salat- und Gemüsebuffet.

Auch heute noch zieht – zusammen mit kaum wahrnehmbarem Äthergeruch – ein Hauch von Diskretion durch die ehrwürdigen Korridore. Immer noch auf Staatskosten erholen sich hier ältliche Mitglieder des Ministerrates der Ukraine. Ein Doppelappartement der Luxuskategorie ist nur einschließlich Vollpension und Arztkosten zu haben und kostet dann 220 Dollar am Tag. Für ein äußerst ansehnliches, „gewöhnliches“ Zweibettzimmer mit Bad und Toilette – unter den gleichen Bedingungen – verlangt das Haus 132 Dollar. Über saisonale Preisschwankungen wird hier nicht geredet. Selber bezahlen müssen und können „neue RussInnen“ in den besten Jahren. Mit ihren Kindern und Burburry-Taschen schweben sie durch die Felsen, mit dem Lift zum Strand. Sie unterhalten sich dabei leise, als beschleunige das Ambiente ihre kulturelle Reifung.

Nach Preis und Leistung liegt das Sanatorium Foros zwischen dem Aj Danijl und dem Nischnaja Oreanda, geographisch betrachtet aber zwischen Jalta und Sewastopol. Der Name „Foros“ ist kein Irrtum. Das Sanatorium heißt genauso wie die berühmte Datscha nebenan. Der letzte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, ließ sie sich bauen und verbrachte dort nur einen Urlaub. Hier saß er während der schicksalhaften Putschtage im August 1991 fest – bis heute ist nicht erwiesen, ob freiwillig oder gezwungen. Schon längst ist die Datscha wieder scharf bewacht. Fotografierwütige TouristInnen werden in der Nähe nicht geduldet. Denn hier hat nun der Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, sein Refugium.

Das Sanatorium Foros, allerdings, ist ein demokratisches Erholungsheim. Es wird Mitgliedern der postsowjetischen Mittelklasse, wie Managern und Dozenten, von ihren Arbeitgebern spendiert. Auf dem freien Markt kostet ein Doppelappartement mit Seeblick, Vollpension und allen Heilprozeduren für die Atemwege 120 Dollar. Der Preis wird im Herbst zunehmend gesenkt und erreicht ab 1. Oktober die Grenze von etwa 90 Dollar. Eine gewisse freie Wahl des Aufenthaltsortes besteht hier sogar im Schlaf: Vor jedem Doppelappartement mit Seeblick stehen auf der zimmergroßen Sonnenterrasse noch einmal zwei voll ausgerüstete Betten. Wenn wir den Speisesaal betreten, stellen wir fest, daß die postsowjetische und die westliche Auffassung von gesundem Essen stark differieren: Auf der Krim muß Gesundes nahrhaft und fettig sein.

Der Speiseplan beginnt frühmorgens mit tortendicken, buttertriefenden Omeletts plus heißen Würstchen und endet abends beispielsweise mit Räucherfisch als Vorspeise und Hühnerbuletten als Hauptgang. Als Nachtisch gibt es fein aufgerollte, mit Marmelade oder saurer Sahne gefüllte Pfannkuchen. Wer dem Magen eine Erholungspause gönnen will, dem bleibt nur die Flucht zum preiswerten Zanderfilet in einem der Restaurants an der Jaltaer Uferpromenade.

Von den meisten Sanatorien aus besteht die Möglichkeit, an Bus- Exkursionen teilzunehmen. Schließlich ist die ganze Krim ein gewaltiges Freiluftmuseum für kulturelle Aktivitäten. Gleich neben Sewastopol haben Archäologen die Ruinen der antiken Kolonie Chersones bloßgelegt, wo altgriechische Kunsthandwerker Schmuck nach dem Geschmack der im Hinterland lauernden Skythen schmiedeten. Hinter den Bergen, im Landesinneren, liegt die alte Hauptstadt der Tataren- Khane, Bachtschisaraj. Bei Kertsch wurde das Dorf Koktebel um die Jahrhundertwende zur Künstlerkolonie und lockte russische Poeten. Und natürlich steht in Jalta noch Tschechows Jugendstilhaus, genau wie die Kulisse zu einem seiner Stücke. Er ließ es nach eigenen Entwürfen bauen. Die schweren, süßen Dessertweine der Halbinsel dürfen Kurgäste im Gut von Massandra probieren.

Wem es noch nicht reichen sollte, daß er hier den ganzen Tag massiert, gefüttert und spazierengefahren wurde wie ein Baby – der könnte im abendlichen Sanatoriumsspeisesaal den Geschichten des Nachbarn lauschen: „Man sagt, auf der Strandpromenade sei ein neues Gesicht aufgetaucht: eine Dame mit einem Hündchen.“