Das paßte unter keinen großen Hut

Legenden ohne Enden: Heute vor 50 Jahren kamen ein paar Schriftsteller zusammen und erfanden nebenbei die Gruppe 47. Aus der Not geboren, wurde daraus die einflußreichste Literatenvereinigung in der Bundesrepublik  ■ Von Jörg Magenau

Hungrige Zeiten, glückliche Zeiten: „Mitzubringen wären Lebensmittelmarken und Versorgung zum Frühstück. Wer irgend kann Bettwäsche. Sollte jemand über einen Kanister Benzin verfügen, so bräuchten Sie die Strecken nicht immer zu laufen, sondern könnten gefahren werden.“ Solche Anfänge taugen zur Legendenbildung. Ach, damals! Auch schon 50 Jahre her, vergilbte Geschichte in Fotos mit Zackenrand. Die Lyrikerin Ilse Schneider-Lengyel lud Hans Werner Richter und die Mitarbeiter der Literaturzeitschrift Skorpion in ihr Haus am Bannwaldsee bei Füssen ein. Aber „bitte nicht mehr als 10 Personen“. Schließlich mußten ja alle verköstigt werden, was in der Kohlrüben- und Nissenhüttenzeit nicht so einfach war. Am 6. September 1947 kamen 17 Autoren und Publizisten zu einer Art Redaktionskonferenz. Die Dichter setzten sich damals zwar noch ohne Reisespesen und Aufenthaltshonorare in Bewegung, aber doch motiviert von der Hoffnung, auf dem Land könnte die Versorgungslage besser sein. Ob jemand Benzin mitbrachte, ist nicht überliefert. Aktenkundig jedoch, daß Ilse Schneider-Lengyel im Morgengrauen zum Angeln auf den See ruderte, um ihre Gäste mit frischem Fisch zu bewirten. Die Dichtergattinnen Isolde Kolbenhoff und Toni Richter badeten nackt im See. Die Herren genierten sich. Sie waren Intellektuelle.

Initiation und Mission

Ja, es war schön. „Der Skorpion“ konnte zwar wegen Papiermangels nicht erscheinen und wurde nach der Nullnummer von der amerikanischen Lizenzbehörde wegen „Nihilismus“ verboten. Doch gerade dadurch avancierte das Treffen am Bannwaldsee zum Initiationsereignis. Die für das Heft bestimmten Texte wurden nun eben vorgelesen statt gedruckt. Man saß zwanglos auf dem Boden: Weißt du noch, wie wir auf dem Boden saßen, ganz zwanglos? Hans Werner Richter, von Anfang an der Chef, Organisator und kommunikativer Mittelpunkt, rief auf. Die Kritik ergab sich spontan und vielstimmig. Nur die betroffenen Autoren hatten zu schweigen.

Damit war eine äußerst haltbare Zeremonie geschaffen und die „Gruppe 47“ erfunden. Der Name entstand wenig später. Er sollte sachlich und betont unprogrammatisch klingen. „Klingt so nach Stoßtrupp und Marschkolonne. Ist ihnen nichts Besseres eingefallen?“ schrieb Wolfdietrich Schnurre an Richter. Schnurre hatte mit einer Geschichte vom Begräbnis des lieben Gottes den allerersten Text gelesen. Auch eine Legende. 1977, bei der veteranenhaften Zusammenkunft zum 30. Jahrestag, mußte er sie noch einmal vortragen. Weißt du noch?

Vergangene Zeiten, glückliche Zeiten: damals, als die Dichter noch an die Dringlichkeit ihrer Mission glaubten und ein „Anliegen“ hatten. Und niemand spottete darüber. Richter schrieb im Rückblick: „Wir waren überzeugt davon, daß der Mensch mit Hilfe des Wortes, d.h. der Literatur, verändert werden kann. Wir wollten die Mentalität der Deutschen grundsätzlich verändern, weg vom obrigkeitsstaatlichen Denken, hin zum demokratischen. Und dafür schien uns die Literatur das geeignete Mittel. Wir glaubten, langfristig werde die Mentalität eines Volkes von seiner Literatur geprägt.“

Richters postumes Glaubensbekenntnis steht plakativ in fetten Buchstaben am Ende eines opulenten, schön gestalteten Bilder- und Lesebuchs über die Gruppe 47. Wie zum Trotz hat es Toni Richter, die die 47er von Anfang an fotografierend begleitete und die nun diesen Band herausgegeben hat, dort ausgestellt. Es beschreibt exakt das literarische Selbstverständnis, das bis in die 80er Jahre hinein den Konsens der westdeutschen Öffentlichkeit bestimmte, das aber nach 1990 unter dem Totschlagwort „Gesinnungsästhetik“ in die Mühlen der Vergangenheitsüberwältiger geriet. Seither ist es recht und vor allem billig, Heinrich Böll als „Gutmenschen“ zu belächeln, Günter Grass' Warner- und Mahnergehabe unerträglich und die Gruppe 47 obermoralisch und öde zu finden. „Engagement“ ist zu einer ästhetischen Frage von Habitus und Geschmack umdefiniert und zeugt folglich nur noch von persönlicher Eitelkeit und Antiquiertheit. Literatur – das ist der Konsens von heute – soll „zweckfrei“ sein: wer sie zum „Mittel“ macht, macht sich selbst zum Büttel. Die Welt ist sowieso viel zu kompliziert, um in ihr etwas zu bewirken. Doch was soll eine Literatur, die nichts mehr will? Die Klagen über ihren saft- und kraftlosen Zustand und darüber, daß sie nichts mehr mitzuteilen habe, sind ja seit 1990 nicht leiser geworden. „Gesinnungsästhetik ist eine Erfindung des Gesinnungsjournalismus“, sagt Friedrich Christian Delius nun in einem im Fotoband abgedruckten Gespräch. Er war, als er 1964 zur Gruppe 47 stieß, von der Vielfalt der Meinungen und literarischen Texte beeindruckt: „Das paßte unter keinen großen Hut.“ Weder läßt sich die Literatur all der Autoren, die zwischen 1947 und 1967 an Tagungen teilnahmen, unter den Begriff des „Engagements“ subsumieren, noch muß die Hoffnung, mit Literatur „den Menschen verändern zu können“, zwangsläufig eine dröge Mitteilungsprosa hervorbringen. Das bei dtv zum Jubiläum neu aufgelegte „Lesebuch der Gruppe 47“ dokumentiert die enorme ästhetische Spannbreite der auf den Gruppentreffen zum Vortrag gebrachten Literatur, von Ilse Aichinger bis Martin Walser, von Johannes Bobrowski bis Reinhard Lettau, von Wolfdietrich Schnurre bis Ingeborg Bachmann, von Günter Eich bis Peter Bichsel oder Jürgen Becker. Alles Gesinnungsästheten?

Tatsächlich gab es nur in den heroischen Gründerjahren ein klares Programm und die Beschränkung auf den kargen Realismus der Kahlschlagliteratur. „Wir müssen wieder lernen, einfach, echt, wahr und, wenn es not tut, gegen uns selbst grausam zu sein“, schrieb Richter in einem Brief im Juli 1947, nachzulesen in einer Auswahl aus seiner Korrespondenz von 1947 bis 1978. Der über 800 Seiten dicke Band, der in wenigen Tagen in die Buchhandlungen kommt, ist eine literaturgeschichtliche Kostbarkeit. Wer sich mit der Gruppe 47 beschäftigt, wird an ihm in Zukunft nicht vorbeikommen. Endlich läßt sich Richters vielgepriesenes Kommunikationsgenie im Detail überprüfen. Man kann nachvollziehen, wie er Autoren umwarb, wie er Konflikte moderierte und immer wieder die literarische und politische „Offenheit“ der Gruppe betonte. Die Herausgeberin Sabine Cofalla kommentiert jeden Brief penibel und hat dazu ein umfangreiches Register erstellt, so daß das Buch auch als Nachschlagwerk brauchbar ist: ein Who is Who der deutschen Literatur der 50er bis 70er Jahre.

Erstaunlich, wie feierlich Richter anfangs formulierte, wie das falsche Pathos, gegen das man sich wandte, noch Teil der eigenen Sprache war: „Es sind einfach zuviel Schlacken da, die vorerst beseitigt werden müssen. Das können Sie nur mit einem scharfen Seziermesser. Es muß geschnitten werden, grausam, schonungslos und ohne jede Rücksicht. (...) Jedes Wort, das nur schmücken und nichts sagen will, muß fallen, wenn uns noch einmal ein Anfang beschieden sein soll. Das Wort muß wieder lebendig werden.“

Echte, gesunde Kritik

Das geeignete Mittel dazu war eine „scharfe, echte und gesunde“ Kritik, die, so Richter, „vom unbedingten Fanatismus zur Wahrheit getragen“ sein müsse. Das klingt noch nach Windhund, Kruppstahl und Büffelleder, zeichnet aber den Weg vor, den die Gruppe 47 so erfolgreich beschritt. Darin besteht ihre große, über das Literarische hinausreichende Bedeutung: Sie etablierte im restaurativen Adenauerdeutschland eine modellhafte Öffentlichkeit und demonstrierte die Bedeutung von Pluralismus, gesellschaftlicher Einmischung und Kritik. „Aus solchen geglückten Teilöffentlichkeiten bilden sich Republiken, entwickelt sich hinreichendes Selbstbewußtsein einer Gesamtöffentlichkeit“, schreibt Alexander Kluge im Vorwort zum Fotoband.

Aber die Gruppe 47 wurde von der Geschichte überholt und zerbrach schließlich an den Forderungen nach einer radikaleren Demokratisierung der Öffentlichkeit. In den 60er Jahren deformierte sie immer stärker zu einer Literaturbörse; aus den Werkstattgesprächen und der Kritik unter Freunden war längst eine markttechnische Selektionsveranstaltung geworden. Als Martin Walser konsequent die „Sozialisierung“ der Gruppe 47 forderte, konnte ihn ein entsetzter Richter noch als „Bodenseenarr“ abtun. Zur letzten Tagung, 1967 in der Pulvermühle bei Erlangen, erschienen Studenten vom SDS und forderten die Autoren mit Megaphonen auf, sich ihrem Protest gegen Springer anzuschließen. In ihren Augen war die Gruppe 47 ein bürgerliches Relikt, saßen die engagierten Schriftsteller im gutgepolsterten Elfenbeinturm. Die Studenten hißten auf dem Dach die Fahne des Vietcong, verbrannten die Bild-Zeitung und hielten Transparente hoch: „Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger.“ Toni Richter erinnert sich, daß Reinhard Lettau ein paarmal „Genossen“ gesagt habe. Grass habe gekontert: „Ich bin kein Genosse.“ Dann sagte Richter: „Kaffeepause“. Das war schon fast das Ende. Noch eine Legende.

Hans Werner Richter: „Briefe“. Herausgegeben von Sabine Cofalla. Hanser Verlag, München 1997, 820 S., 79,80 DM (erscheint am 19.9.)

Toni Richter: „Die Gruppe 47“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, 224 S., 98 DM