Praktizierte Haßliebe zu Hollywood

■ Das 4. Internationale Filmfest Oldenburg gibt Aufschluß über Freiheit und Abhängigkeit des Low budget–Films

„Internationales Filmfest“nennen Torsten Neumann und Thorsten Ritter „ihr“Festival. Beider Liebe aber gilt vor allem dem amerikanischen Film, genauer jenen Randzonen, die noch nicht von der Hollywoodmaschinerie gleichgeschaltet wurden. Mit gutem, alten Pioniergeist machen sich die beiden Cineasten nun schon das vierte Jahr auf den Weg gen Westen um - zum Beispiel auf dem Sundance Festival in Park City/Utah - neue filmische Formen und Inhalte zur Bereicherung des deutschen Kinoangebots zu entdecken, zur Entrümpelung hiesiger Sehgewohnheiten und vielleicht auch zur Anregung der Filmsprache deutscher Regisseure. Wie auch beim Filmfestival in Hof wird die Auswahl nicht demokratisch von einer Jury getroffen, sondern diktatorisch von den zwei T(h)orstens, mit allen Chancen und Risiken der Ungefilterheit individueller Vorlieben. Jenseits klassisch-unvermeidlicher Arrangements des Zufalls, wie Vavrovas Eröffnungsfilm „Hunger“(war eben gerade nichts anderes auf dem deutschen Kinomarkt), sind zwei gegensätzliche, und doch zusammengehörende Vorlieben erkennbar: für den lakonischen, anekdotenhaften, den Alltag jenseits der großen Erzählung, also postmodern, abfeiernden Film, getragen allein von habituellen Liebenswürdigkeiten von Personal und Landschaft, einem Zucken der Wimper oder einem Schattenriß der Wüstenlandschaft; als zweites für den spannenden, stringent seine Geschichte zuende peitschenden Krimi. Das Leben als Wagnis oder Alberei, nur ja nicht als Konfliktbewältigung.

Das Oldenburger Filmfest ist noch zu klein, um von jener seltsamen Gespaltenheit der großen Festivals befallen zu sein, wo wunderbarste Fundstücke die Nebenschauplätze – Forumsreihen, Retrospektiven, Länderportäts – besiedeln, die Löwen-und Bären-Wettbewerbe aber doch nur das raubtierhafte hollywood'sche Star-Blockbuster-Kino-als-Event-System mit all seinen Vor- und Nachteilen anheizen. Aber auch Oldenburg übt sich langsam in jenem gegenseitigen Geben und Nehmen zwischen Location und Person: wertest du, lieber Star, mit deinem Namen unser Festival auf, dann schiebt unser Festival die Bedeutung deines Namens noch ein wenig nach oben. Immerhin, Abel Ferrara konnte man dieses Jahr auf der Fahne schwenken, einer dieser amerikanischen Hybriden, die hartnäckig als Außenseiter gehandelt werden und dennoch akzeptable Umsatzzahlen einfahren.

Das Hauptaugenmerk des Festivals aber galt Tim Hunter, einem Regisseur, der wie viele Amerikaner einlädt zum Nachdenken über den osmotischen Austausch zwischen Kommerz und Independet. Natürlich hegt und pflegt Tim Hunter mit seinen Filmen ein Herz für Außenseiter und Kleinstadtgeschädigte. Auf den Punkt bringt er diese Rehabilitation aller Parias in seinem bittersüßen Obdachlosendrama „The Saint of Washington“. Ein schwarzer, muffiger, alter Autoscheibenwäscher verdient ebensoviel Aufmerksamkeit wie ein fettwanstiger Mädchenmörder oder ein hypermotorischer, zaundünner Daueralkoholisierter. Die diversen Welten der verlorenen Seelen werden ausgeleuchtet durch die strahlende Aura einer reinen, makellos schönen Lichtgestalt. Mal ist es Matt Dillon, mal Keanu Reeves im neusten Hunteropus ist es ein gewisser Jonathan Rhyf-Meyers, welcher gute Chancen hat, in ein paar Jahren zu „dem“Jonathan Rhyf-Meyers zu avancieren: wieder trieb Tim Hunter eine Vorliebe für Teenieschwarm-Schönheiten. So kann Hollywood vom Independent-Kino nicht nur seine künftigen Stars abschöpfen, sondern bekommt sie gleich versehen mit dem Charme des Unangepaßten. Johnny Depp, River Phönix, Brad Pitt, lauter werbungskompatible Gesichter, die uns durch ihre cineastische Herkunft interessant, ja dämonisch geworden sind.

Daß ein Film auch ohne schönheitsideale Integrationsfigur funktionieren kann, zeigt Billy Bob Thornons geniale Sympathiekundgebung für alle Gequälten und Geknechteten, „Sling Blade“. Eine klassische Mann-Frau-Liebesbeziehung kommt in diesem Film durchaus vor. Die aber ist frustrierend, destaströs – und vor allem unerheblich. Ihr gegenüber gestellt ist die viel tiefere Freundschaft zwischen einem kleinen Jungen und einem großen Irren. Ein Frauenmörder fragt diesen Kind gebliebenen Mann namens Childers, was er in der Welt jenseits des Senatoriums erlebt habe. Childers erzählt vom Jungen und wird glatt sexistisch mißverstanden, als würde sich alles nur um den Eros drehen. Hier scheint sich der Film seiner Besonderheit bewußt zu werden und setzt sich sehr explizit gegen die totalitäre Herrschaft der Erotik im kommerziellen Film zur Wehr. Statt Bindungen über den Klebstoff Liebe zu entwickeln, entwirft „Sling Blade“eine Fülle anderer Beziehungsmöglichkeiten: die – allerdings nur zäh und stockend übernommene – Verantwortung des Senatoriumsleiters gegenüber seinem Patienten, die Fürsorge des Arbeitgebers gegenüber seinem sozial unverorteten Mitarbeiter, die Liebe des Schwulen zu einer Mutter-Kind-Einheit, also seiner unerreichbaren Familienkomplettierung. Und immer funktionieren diese Freundschaften auf einem gegenseitigen Kompensieren von Schwächen und Verletzungen. Doch das macht sie nicht schäbiger, sondern erhöht ihren Wert. Auch nach Forrest Gump, Rain Man und Awakening sind solch liebevolle Erkundungen defizitärer Innenwelten äußerst mutig. Als spröde gilt die Thematik. Und dennoch: alle, die in Oldenburg Sling Blade gesehen hatten, geriet ins Schwärmen. Ein Bedarf an neuen Themen jenseits von Love & Crime scheint ganz offensichtlich. Fragt sich nur, warum so wenige Filmemacher Interesse oder Mut dazu aufbringen.

Demgegenüber steht der schwedische Mafiafilm „9 Millimeter“für eine zwiespältige Tendenz des neuen Films ein. Der formale Auftritt ist zeitgeistig-jugendlich, das Wertefundament, auf dem sich die Story hochschraubt, dagegen altbacken, die Lebensperspektive auswegslos wie in der antiken Tragödie, und dennoch dreht sich die Welt am Ende versöhnlich weiter. Malik liebt Carmen und stapft weit in mafiotischen Sumpf hinein, um ihr Porsche und Sekt bieten zu können. Der weitere Verlauf der Geschichte offeriert uns die Botschaften, daß Geld nicht wichtig ist, sondern nur wahre Liebe zählt, daß man niemals den Lebenspartner belügen sollte, daß man Babys der Liebe nicht abtreiben darf, auch nicht unter schwierigen äußeren Umstanden, daß jederzeit die Möglichkeit zur Umkehr offen ist, allerdings gegebenenfalls mit einem Tod bezahlt werden muß, was aber nicht so schlimm ist, weil das Baby der Liebe dann die positiven Lebensenergien in die Zukunft hinüberretten wird. Liebe ist in diesem Film ganz unreflektiert als die wahre Liebe fürs ganze Leben inszeniert, als hätte es nie 68 gegeben oder die wunderbaren berückend-verstrickten Zufälle des französischen Films. Die Ästhetik des Films dagegen weiß sehr wohl von Diskontinuitäten, Bruchstückhaftigkeit und von perspektivisch verschobener Wahrnehmung. Schnitttechnik und Derealisierung entspringt dem MTV-Videoclip.

Hat man am Tag davor vielleicht auch noch „The Makers“und Todd Morris feministisches Männerniedermetzeln „A gun for Jennifer“gesehen, dann drängt sich der Eindruck auf, daß sich weite Bereiche des Independent Kinos definieren über eine neue – oder auch gar nicht so neue – Darstellung von Verbrechen; als sollte am Extremfall Moral neu überdacht werden. Aber auch hier wird mit mehr Engagement an der Ästhetik gefeilt als an der Tendenz. Die Ambivalenz der großen Hollywood-Mafiafilme ist noch immer State of the Art.Der luxuriöse Lebensstil im Gangstermilieu fasziniert ebenso wie die herrischen Gesten der Bosse und das Kribbeln im Moment der Gefahr. Trotzdem bleibt das Böse böse. „A gun for Jennifer“allerdings legt die Konfliktachse anders. Eine Gang mordender Frauen ist gleichzeitig absolut im Recht (nämlich dem der Rache) und absolut im Unrecht. Denn Unbeteiligte werden ebenso hingerichtet wie die Vergewaltiger der Frauen. Allerdings täuscht in diesem Film die Heftigkeit der Wortwechsel innerhalb der Gang und die Extremität der Mord-pro-Minute-Rate Komplexität und Radikalität nur vor. Letztendlich könnte auch dieser Film beschrieben werden als Sklave der MTV-und Hollywoodgesetze: höher, weiter, schneller. Alles Psychologische wird im Schnellverfahren abgehandelt. Für die Versehrtheit der vergewaltigten Frauen stehen ein paar Rückblenden und Fotos mit Wundmalen. Endlos dagegen die Bilder von der Schönheit rachedürstender Gesichter.

So wird Independent Kino auf diesem Festival als Wider- und Wiederspiegelung von Hollywood kenntlich, selbst in seiner Opposition noch infiltriert. Nur gut, daß die Einflußrichtung nicht einseitig ist. bk