Alles in allem überragend

■ Zu groß, zu dünn: Normabweichung Swetlana Chorkina turnt zum Gold

Lausanne (taz) – Nach wie vor bestimmen die kleinwüchsigen Turnerinnen mit atemberaubendem akrobatischem Können die Szenerie im Frauen- oder Mädchenturnen. Dem Publikum gefallen die temperamentvollen, putzigen Springteufel. Auch durch die Heraufsetzung des Wettkampfalters auf mindestens 16 Jahre wurden die Turnerinnen nicht größer und fraulicher. Nur das Wertungssystem kann nachhaltig verändernd wirken. Ansätze sind hier bereits gemacht, sonst wäre die Normabweichung Swetlana Chorkina Weltmeisterin im Mehrkampf und am Stufenbarren geworden.

Exakt 9,801 Punkte mußte Chorkina (18), die Stufenbarren- Olympiasiegerin von Atlanta, im Mehrkampf an ihrem Paradegerät aufholen, um die Vorgabe der Rumänin Simona Amanar zu egalisieren. Die Barrenholme wurden auf das Maximum auseinandergeschraubt, um ihre Riesenfelgen möglich zu machen. Nach ihre elegant-halsbrecherische Übung feierte sie das Publikum bereits begeistert. Und die Jurorinnen sahen das ähnlich und gaben 9,850 Punkte.

Ihr erster Trainer wollte Swetlana Chorkina gar nicht haben. „Was soll ich mit so einer Großen“ hatte er abgewehrt, dazu sei sie noch kraftlos. „Groß und schwach, das ginge nicht“, erinnert sich Chorkina genau an seine Worte. Er trainierte sie dann doch. Inzwischen mißt die Russin aus Belgorod, nahe der ukrainischen Grenze, 1,64 Meter und bringt 47 Kilo auf die Waage. Durchschnittliche Gardemaße in der Weltklasse: 1,40 Meter und 35 Kilo.

Auf langen schlanken Beinen spaziert sie durch die Halle. Ihre ansonsten blondgefärbte und pomadisierte Haartolle ist einer hennaroten Kurzhaarfrisur gewichen. „Ich bin zwar für das Turnen zu groß und zu dünn“, sagt Swetlana Chorkina. „Aber ich bin die Beste“, fügte sie bereits vor dem Mehrkampffinale selbstbewußt hinzu. An allen Geräten, am Boden, so gut es ihre Größe zuläßt, präsentiert sie schwierigste Akrobatik, aber am meisten besticht sie durch ihre Ausstrahlung. Die Ballettausbildung ist unverkennbar, jede Geste ihrer ebenso schlanken wie langen Hände ist mühevoll einstudiert. Vergleiche mit Swetlana Boguinskaja, der Turndiva der frühen 90er Jahre aus Minsk, drängen sich förmlich auf.

Mit ihrem allzu dynamischen Längenwachstum war Swetlana Chorkina bereits vor drei Jahren im Grenzbereich angelangt. Sie hatte die begründete Sorge, daß sie nicht mehr zwischen die Holme paßt: „Wenn das so weitergeht, fürchte ich, daß ich an meinem Lieblingsgerät, dem Stufenbarren, Probleme bekomme“, sagte sie damals. Bis heute kamen glücklicherweise nur noch zwei Zentimeter hinzu. Wo sie durch weniger Risiko nicht so wirken kann wie die Kleinen, baut sie geschickt Pirouettenkombinationen in ihre Übungen ein. Was selbst Rußlands Oberturner Leonid Arkajew, Chefcoach und Präsident in einem, zum Weinen brachte. Chorkina ließ ihn das Debakel seiner Männer gegen die Chinesen vergessen.

Aus der Reihe fällt auch Walerie Belenki, wenn auch durch sein Alter: Der 28jährige Stuttgarter erturnte überraschend Gold am Pauschenpferd. Der vor drei Jahren eingebürgerte Aserbaidschaner wiederholte damit seinen Titelgewinn von 1991, damals noch als GUS-Turner. Karl-Wilhelm Götte