Der Terror rückt auf Algier vor

■ Die Gewaltwelle in Algerien nähert sich immer mehr der Hauptstadt: Erneutes Massaker fordert mehr als 60 Tote. Die Armee macht mit Hubschraubern und Fallschirmjägern Jagd auf islamistische Kommandos

Berlin (taz) – Die Sonne war kaum untergegangen, als die LKWs in Sidi Youcef einfuhren. „Die Bewaffneten erklärten uns, sie seien gekommen, um für unsere Sicherheit zu sorgen“, erzählt ein Bewohner eines der ärmsten Viertel vor den Toren Algiers später der spanischen Nachrichtenagentur efe. Ein ebenso perfektes wie grausames Täuschungsmanöver, denn „wenige Minuten später war das hier die Hölle“. Die vermeintlichen Beschützer drangen in Häuser und Slumhütten, zerrten die Menschen auf die Straße und massakrierten Frauen, Kinder, Babys, Alte. 63 Tote und noch mal so viele Verletzte, ziehen die Ärzte im nahe gelegenen Beni-Messous die blutige Bilanz. Der Gesundheitsposten ist viel zu klein, um soviel Elend aufzunehmen. Die Zimmer sind überfüllt, die Leichname stapeln sich in den Gängen, Scharen von Angehörigen belagern den Eingang.

Für viele von ihnen ist es nicht die erste Schreckensnacht. Sie kamen im Zuge des seit mehr als fünf Jahren dauernden Bürgerkrieges als Kriegflüchtlinge in die Hauptstadt. In ständig wachsenden Slumsiedlungen, wie Sidi Youcef, erhofften sie sich mehr Sicherheit als in ihren kleinen Heimatdörfern in der Mitiya, einer Ebene zwischen der Küste und den ersten Atlasausläufern. Der Krieg hat der fruchtbaren Gegend längst einen neuen Namen gegeben: Dreieck des Todes. Nirgends sind die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) so präsent wie hier. Ein Großteil der Massaker haben die einst von den französischen Kolonialherren errichteten Weingüter und Obstplantagen als Kulisse. Tagsüber herrschen hier Armee und Polizei, nachts die bewaffneten Banden.

Der Flucht vieler Landbewohner in die erhoffte Sicherheit der Stadt war vergebens. In den letzten Wochen fallen immer mehr Siedlungen in der Banlieu Algiers dem Terror zum Opfer. Die Soldaten und Polizisten der zahlreichen Kasernen, die als Sicherheitsgürtel um die Hauptstadt herum errichtet wurden, überlassen auch hier nachts den Todeskommandos das Feld. Das war vor einer Woche in Rais so, als beim blutigsten Massaker dreihundert Menschen getötet wurden, und das wiederholte sich am Freitag in Sidi Youcef. Das benachbarte Beni-Messous beherbergt mehrere Sicherheitsposten, darunter eine der wichtigsten Militärkasernen rund um Algier. Die Soldaten ignorierten die von den Einwohnern in den Siedlungen rund um Sidi Youcef ausgelösten Warnsirenen. Die Menschen flohen in Panik Richtung Innenstadt, die Soldaten blieben in den Kasernen.

Trotz der nur allzu offensichtlichen Ohnmacht angesichts der erneuten Gewaltwelle spricht Staatspräsident Liamine Zéroual weiterhin vom nahen Sieg über die GIA- Kommandos. Dabei meidet selbst tagsüber das Militär den Landweg, wenn es von der Hauptstadt in die nahen Atlasausläufer zieht. Bei einer großangelegten „Säuberungsaktion“, mit der die Terroristen „endgültig ausgemerzt“ werden sollen, kommen Hubschrauber zum Einsatz. Die Fallschirmspringer haben dabei insgesamt 70 mutmaßliche GIA-Kämpfer nahe der Garnisonsstadt Blida, 50 Kilometer südlich von Algier, erschossen, so berichten ausländische Agenturen unter Berufung auf halboffizielle Quellen.

Auch in der Hauptstadt selbst fällt es der Bevölkerung immer schwerer, an ein Ende des 1992, nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen und dem Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS), ausgebrochenen Bürgerkrieges zu glauben. Nur eineinhalb Monate vor den Kommunalwahlen, mit denen der Ex-General und Staatspräsident Zéroual den Aufbau maßgeschneiderter, den demokratischen Schein wahrender Institutionen beenden will, leben die Hauptstädter erneut unter Bomben. Die letzten beiden Sprengsätze in einem zentral gelegenen Kino und in der Nähe eines Marktes konnten vergangenen Freitag – im muslimischen Algerien arbeitsfrei – gerade noch rechtzeitig entschärft werden. Reiner Wandler