"Die Unternehmen boykottieren!"

■ Peter Grottian, Teilzeit-Hochschullehrer für politische Wissenschaften an der FU-Berlin, zur Lehrstellenmisere: Betriebe, die nicht ausbilden, obwohl sie es könnten, müssen gesellschaftlich stigmatisiert we

taz: Wenn es nach Ihnen ginge, wäre die Suche nach Lehrstellen für dieses Ausbildungsjahr noch nicht zu Ende. Warum?

Peter Grottian: Arbeitgeber, Staat und Gewerkschaften werden keine Lösung mehr schaffen. Die Lehrstellenlücke wird immer größer – vor allem, wenn man Altbewerber und Jugendliche, die in irgendwelchen Warteschleifen sitzen, berücksichtigt. Zählt man die alle zusammen, kommt man auf eine Zahl von 1,2 Millionen bis 1,3 Millionen jungen Menschen zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren, die derzeit aus dem Lehrstellen- und Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Die generelle Situation auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist die dramatische Zuspitzung, nicht die derzeit akribisch ausgemessene aktuelle Lehrstellenlücke.

Was schlagen Sie vor, sollte dagegen getan werden?

Jugendliche ohne Ausbildungsplatz sollten einen Scheck über monatlich 1.000 Mark für das erste Lehrjahr bekommen. Mit diesem Scheck schließen sie dann einen Ausbildungsvertrag ab, in den sie ihre Vergütung selbst mitbringen. Damit würde schon einmal eine spürbare Entlastung geschaffen, bevor im nächsten Jahr wieder das Ritual der zunehmend frustrierenden Suche nach Lehrstellen beginnt. Denn die geforderte Ausbildungsumlage wird nicht kommen, und das duale Ausbildungssystem funktioniert auch nur zu einem Teil.

Diese 1.000 Mark pro Monat und Lehrling soll der Staat bezahlen, dessen Vertreter derzeit den Rotstift schwingen?

Kalkulieren wir das mal für ein Lehrjahr für 50.000 Jugendliche: Das wären 600 Millionen Mark. Soviel sollte die Jugend dem Staat wohl wert sein.

Dafür müßten sich aber auch einflußreiche Kräfte in Gesellschaft und Politik stark machen, sonst ist die Forderung, wie so viele andere vorher, nur in den Wind gesprochen.

Das Schlimme ist ja, daß die Gesellschaft den strukturellen Ausgrenzungsprozeß der jungen Generation, der sich ja nicht nur im Mangel an Lehrstellen ausdrückt, erschreckend ruhig hinnimmt. Die Etablierten meinen, mit einem Ausbildungsplatz hier und einem Studienplatz da sei es getan. Die öffentliche Debatte über Jugendliche konzentriert sich derzeit vor allem auf deren Kleidungsstile, die Love Parade – und die Jugendkriminalität.

Wie sehen die jungen Leute selbst die Situation?

Den Jungen ist ist ihre massenhafte Ausgrenzung zum Teil noch gar nicht richtig bewußt, zum Teil wissen sie noch nicht, wie sie sich wehren können. Zu den politischen Parteien haben sie kein Vertrauen; Organisationen und Gruppen außerhalb der etablierten Institutionen stehen sie auch nur sympathisch-distanziert gegenüber. Deshalb ist diese Jugendgeneration aber keineswegs unpolitisch. Sie wird ihre Formen des Protests und Widerstands noch finden. Im übrigen hat sich die Jugend, wie die Geschichte ja beweist, nie dauerhaft ausschließen lassen.

Sie wollen dafür sorgen, daß die Weigerung, Ausbildungsplätze bereitzustellen, in Zukunft ein gesellschaftliches Stigma nach sich zieht. Wie das?

Mit einem Produktions- und Dienstleistungsboykott. Wir wollen Betriebe, die nicht ausbilden, obwohl sie dazu in der Lage wären, öffentlich benennen und zu einer Änderung ihres Verhaltens zwingen. Wichtig ist dabei, die Jugendlichen selbst in entsprechende Aktionen einzubeziehen.

Wie soll das praktisch funktionieren?

Zum Beispiel, indem die Jugendlichen ihre Sportausrüstung nur noch in Läden und Kaufhäusern kaufen, die eine angemessene Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung stellen, solche ohne Ausbildungsplätze aber boykottieren. Die Jugendlichen können ihre wachsende Bedeutung als Konsumenten durchaus in politischen Einfluß ummünzen.

Wie und wofür sollen Jugendliche heute ausgebildet werden?

Man muß endlich darüber diskutieren, welche Dienstleistungen gesellschaftlich wichtig sind, welche neuen Berufsbilder dadurch entstehen, und wie die entsprechende Ausbildung aussehen kann. Ob die Arbeitsplätze dann durch den Staat, die Kirche oder durch ein privates Unternehmen finanziert werden, ist dabei zweitrangig.

Wir machen uns doch etwas vor, wenn wir glauben, mehr Lehrstellen in den klassischen Berufen wie Arzthelferin oder Kfz-Mechaniker würden die Probleme lösen. Nehmen Sie das gesellschaftliche Thema der Gewalt. Da ließen sich eine Menge neuer Berufsbilder entwickeln – vom Antigewalttraining über Konfliktvermittlung bis hin zur Begleitung gewalttätiger Männer. Das ist ein kommunitärer Dienstleistungssektor, der keineswegs nur Jobs für Hochschulabsolventen bietet.

Und wenn diese Leute dann trotzdem keine Arbeit finden?

Dann muß es den Arbeitsplatz auf Kredit geben. Das soll heißen: Eine Million Erwerbslose, die länger als drei Monate arbeitslos sind, können bei der Bank einen Kredit über drei Jahre erhalten, der ihnen ein monatliches Einkommen garantiert. Mit dieser Rückendeckung suchen sich einen Arbeitgeber oder basteln sich mit ihren Fähigkeiten selbst einen Job. Wer nach drei Jahren gut genug verdient, zahlt den Kredit zurück. Wer keinen Arbeitsplatz gefunden hat oder schlecht verdient, für den bürgt der Staat.

Das würde im Jahr insgesamt rund 15 Milliarden bis 20 Milliarden Mark kosten. Damit würde man eine Dynamik von unten in Gang setzen, schnell und unbürokratisch Jobs schaffen und zeigen, daß sich Menschen mit ihren Qualifikationen und ihrer Motivation selbst Arbeitsplätze organisieren können. Interview: Andrea Böhm