„Olaf, ich brauche dich“

Droht Cordoba oder New York? Inmitten eines Markt-Umverteilungskampfes muß DFB-Trainer Berti Vogts feststellen, daß sein Team nicht einmal mehr ein Team ist  ■ Von Peter Unfried

Berlin/Dortmund (taz) – Wenn das Telefon klingelt und es ist einer dran, der schon eine ganze Reihe von Jahren nicht mehr angerufen hat, stellt sich natürlich sofort Argwohn ein: Was will der Kerl? Bloß plaudern? Meist nicht. Ex-Nationalspieler Olaf Thon hörte Berti Vogts in der Hauptsache vier Worte sagen: „Olaf, ich brauche dich.“ Dies auszusprechen nach einer gebührenvermeidenden Phase von knapp viereinhalb Jahren ist andererseits nicht einfach – und zeigt, wie es um die Gemütslage des DFB- Trainers vor dem morgigen Dortmunder WM-Qualifikationsspiel gegen Armenien bestellt ist.

Vielleicht sollte man zunächst die Faktenlage präsentieren. Seit dem Tag des Unglücks, dem New Yorker 1:2 gegen Bulgarien im WM-Viertelfinale 1994, haben Vogts' und Klinsmanns DFB-Fußballer zwar Lothar Matthäus verloren, dafür aber auch nur ein Spiel – einen mäßig bedeutsamen EM- Test im Juni vergangenen Jahres gegen Frankreich (0:1). Das samstägliche 1:1 gegen Portugal war das 17. niederlagenlose Spiel.

Die WM-Qualifikation ist damit zwar noch nicht geschafft – aber so gut wie. Vier Punkte aus zwei Heimspielen (Armenien, Albanien) sind möglich – und selbst wenn der Gruppensieg verpaßt wäre, hätte man einen Fallschirm namens Gruppenzweiter für eine Notlandung in Frankreich.

Es gibt aber etwas, was Wortschöpfer Vogts „Belast“ nennt, jener „Belast, der auf dem Europameister lastet“. Die Öffentlichkeit interessiert sich nicht für Durchschnittliches – schon gar nicht von der DFB-Auswahl. Und der DFB kann es sich nicht leisten. „Wir stehen unter enormem Erfolgsdruck“, sagt Vogts. Und dieser Erfolg mißt sich nicht bloß in Toren. Sondern unter anderem auch in medialer Präsenz und letztlich – wie alles im Leben – in Einschaltquoten. Die gute, alte „Nationalmannschaft“ muß antreten gegen die sehr bunt präsentierte Bundesliga und eine sportlich hochklassige Champions League, in der die Besten der Welt zu sehen sind.

Der DFB tut, was er kann: Das Berliner Spiel inszenierte man mit dem Bombast und Pathos der Maske-Boxkämpfe. Dort läßt man eine Fackel brennen, hier bringt man eine adrette Anna Maria zur Pressekonferenz. Man verschenkt Trikots: nicht fünf, sondern 75.000. Vordergründig geht es um die WM 2006, es geht (damit) auch um die Zukunft des Verbandes, um seine Präsenz und Positionierung auf einem sich neu ordnenden Markt.

11,96 Millionen haben am Samstag abend das Spiel gesehen, in der „Woche der Wahrheit“ (Vogts). Das sind nicht wenig, nichtsdestotrotz hat ein Erosionsprozeß begonnen. Sachte. Zunächst.

In einer solchen Phase ist Unspektakuläres besonders gefährlich. Nun hat man aber schon mit Kassengiften wie Armenien und Albanien zu kämpfen – und man kann sie zwar abservieren, aber nicht richtig. Und hat man einmal auf dem Platz Spektakel, dann liefern es die Portugiesen.

Um eine Zukunft zu haben, muß Vogts abliefern: größten Erfolg und dennoch hie und da Spektakel. Letzteres war der EM-Sieg, zwar nicht im Definitionssinn – spektakulär aber auf eigene Weise. Und wenn es nur deshalb war, weil die Tugenden – mit einem Schuß Kreativität abgeschmeckt – auf hohem Niveau abgeliefert wurden. Und nun findet Vogts beides nicht mehr. Sammer und Möller fehlen – die Kreativität beschränkt sich auf Baslers Flanken. Wenn es nur das wäre! Durch das Machtvakuum (Sammer abwesend, Klinsmann geschwächt) hat offenbar der teamspirit gelitten. Selbst Torhüter Köpke redet davon, keiner sei „mehr bereit, dem anderen zu helfen“. Stürmer Klinsmann fand beim Pressen, daß „eigentlich keiner hinter uns war, der hilft“.

Vogts hatte seiner geschlossenen Gesellschaft den Konkurrenzdruck bisher erspart. Insofern ist es schlüssig anzunehmen, der Egoismus sei auf das Nachlassen der Leistung zurückzuführen – und nicht andersherum. Da die öffentliche Begeisterung am relativen Erfolg ausbleibt, sich auch andeutet, daß man in dieser Zusammensetzung für ganz große Erfolge womöglich nicht mehr taugt, bildet sich die vor und in England zusammengewachsene Interessengemeinschaft zurück in Einzelhandelskaufleute. „Jeder“, sagt Köpke, „denkt nur an sich.“

Einem deutschen Team aber, das kein Team ist, blüht zweierlei: Cordoba (1978) oder New York (1994). Und deshalb kommt der Schalker Thon ins Spiel. Der ist kein Ergänzungsmann, sondern ein Held des Potts wie Lars Ricken auch. Vogts will: aufrütteln. Zweitens glaubt er an sein System und daß es wieder funktioniere, wenn die Wichtigen zurückkehren und offensichtliche Schwachstellen ersetzt sind.

Wo am Samstag vor der Abwehr noch das Post-Eilts-Loch war, soll am Mittwoch der vormalige Ersatz-Libero Helmer saugen. Oder bei Erfolgsnachweis zukünftig der gestern nach Dortmund beorderte Hamburger Sven Kmetsch. Wo Sammers Vorstöße schmerzlich fehlten, sollen Thons Pässe Linderung bringen.

Manchmal ist so ein überraschender Anruf vielleicht doch auch ganz angenehm. Olaf Thon sagte: „Es ist schön, daß der Bundestrainer angerufen hat.“ Er ist mittlerweile 31 und ab morgen Ex- Ex-Nationalspieler, denkt aber nur noch „von Spiel zu Spiel“. Das trifft sich, denn das tut der Anrufer nun offenbar auch. Wie groß Vogts' Sorgen wirklich sind, verrät jener Satz, der ihm in Berlin in seine Klagerede rutschte: „In Dortmund“, sagte er scheinbar unzusammenhängend, „gibt es ja noch Eintrittskarten.“