Bedingungslose Treue

In Armenien spielt Demokratie nach der „großen nationalen Idee“ nur die zweite Geige. Eine „patriotische“ Presse stützt die Regierung  ■ Von Mikael Danielyan

Der armenische Präsident Levon Ter-Petrosyan ist mit dem Demokratieverständnis und der Menschenrechtspolitik seiner Regierung vollauf zufrieden. Sein militärisch-politisches Regime verfügt über alle Eigenschaften einer Demokratie: eine bunte und vielgestaltige politische Opposition, über 1.000 NGOs, Medien, die sich für frei und unabhängig halten, und sogar ein paar politische Gefangene. Dazu ein Präsident, der im Vergleich zu den Oberhäuptern anderer GUS-Staaten fast ein Dissident ist. Alles andere, was noch Bedeutung hat, ist durch eine Verfassung garantiert.

Aber die Wirklichkeit, in der Rechte nämlich ausschließlich durch politische und nationale Interessen definiert sind, sieht etwas anders aus. Das Leben ist von Tabus umstellt. Wer Verbotenes anspricht, hat – wie die Journalisten des Landes erfahren mußten – mit gerichtlichen Rügen, Drohungen, Arbeitsplatzverlust und sogar Gefängnis zu rechnen.

1995 verabschiedete das armenische Parlament ein Gesetz, das den Verbleib der russischen Militärbasen im Lande erlaubte. Von insgesamt 149 anwesenden Abgeordneten aller politischen Couleur stimmten 147 dafür. Obwohl das Schicksal eines „unabhängigen, souveränen Armeniens“ eng mit der Frage russischer Militärpräsenz verknüpft ist, hat es die Presse abgelehnt, darüber zu diskutieren. Die „unabhängigste“ russischsprachige Zeitung, Golos Armenii (Stimme Armeniens), erklärte unverfroren, daß diese weitreichende Entscheidung schon vor Jahren hätte getroffen werden sollen. Und als der stellvertretende Sprecher der herrschenden Armenischen Nationalbewegung während der Parlamentsdebatte über die Ratifizierung des Vertrags alle Gegner desselben als „Teil der jüdischen Lobby“ bezeichnete, schlug die Zeitung Ayim (Jetzt) mit einem namentlich nicht gezeichneten Artikel – Überschrift: „Wenn die Juden sprechen, hört der Westen zu“ – in die gleiche Kerbe.

Als 1993 die armenische Armee an der Front für Karabach kämpfte, war die Nachfrage nach Kanonenfutter so groß, daß die Rekrutierung nahezu terroristische Züge annahm. Wer seinen Gestellungsbefehl erhalten hatte, wurde von Militärpersonal überall aufgegriffen: im Bus, auf der Straße, zu Hause – innerhalb von Tagen war man im Fronteinsatz. Das alles geschah in stillschweigender Übereinstimmung der Behörden. Lediglich ein Abgeordneter, der inzwischen verstorbene Wissenschaftler Rafael Ishkanjan, forderte ein Ende des Terrors. Die Antwort des Verteidigungsministers Wasgen Sarkisjan war typisch: „Ich bin da drüben, um Land für euch zu holen, und euch paßt das nicht einmal. Das beste wäre, ich holte euch alle aus dem Parlament und schickte euch selbst an die Front.“

Keine armenische Zeitung wollte darüber berichten, nur die russische Zeitung Ekspress-Khronika (Expreß-Chronik) veröffentlichte einen Artikel dazu. Ich erhielt einen Anruf von der Informations- und Presseabteilung von Nagorny Karabach: „Ihr nennt uns Faschisten? Denkt dran, wir haben noch viele Gewehre übrig; wir können dafür sorgen, daß man euch herschickt – damit ihr selbst ein bißchen Schießübung kriegt.“

Schreiben „auf Befehl“

1995 besuchten Dimitri Leonow und Swetlana Ganuschkina aus Rußland sowie Bernhard Klassen aus Deutschland Armenien, Aserbaidschan und Nagorny Karabach. Sie veröffentlichten einen Bericht und ein paar Artikel darüber, was sie gesehen hatten. Ganuschkinas Artikel in Ekspress-Khronika verärgerte sowohl die Behörden als auch die anderen Journalisten in Karabach. Die Namen der drei kamen auf die Liste der „Feinde der Nation“.

Ein Mann namens Wagram Agandschanjan, Angestellter des Informations- und Presseamtes von Nagorny Karabach und Sonderkorrespondent für die Eriwaner Zeitung Azg (Nation) und den armenischen Sender Radio Liberty (RL), beschuldigte Ganuschkina des Vorurteils und der Parteilichkeit für Aserbaidschan. Selbst das reichte nicht, ihn vor dem Zorn der Karabach-Gewaltigen zu schützen. Unzufrieden mit einer ganzen Reihe von Artikeln, ließen sie Agandschanjan verhaften; sie feuerten ihn aus dem Informations- und Presseamt und verlangten das gleiche vom Herausgeber von Azg und dem Direktor von RL. Letzterer folgte diesem Befehl und sagte Agandschanjan: „Wenn sie [die Führung von Karabach] dir ein Loyalitätszeugnis ausstellen, kannst du wiederkommen.“

Die Kollegen von RL waren empört – allerdings nicht über die Handlungsweise ihres Chefs, sondern über meinen Artikel in Ekspress-Khronika, in dem ich sowohl über Agandschanjan als auch über den Fall von Wahan Ischkhanjan berichtet hatte, einen Journalisten von Azg, der auf meine Bitte hin einen Artikel über diese Geschichte in Golos Armenii publiziert hatte.

Agandschanjans Bestrafung hörte damit keineswegs auf, und man drohte ihm mit der Einberufung an die Front. Seine Eltern baten ausländische Botschaften und Menschenrechtsorganisationen in Eriwan darum, ihren Sohn zu schützen, und ich schrieb einen weiteren Artikel in Ekspress- Khronika. Diesmal fühlten sich die Journalisten der „unabhängigen“ oder „privaten“ Nachrichtenagentur Noyan Tapan provoziert. Einer von ihnen sagte mir: „Man ist in Karabach sehr unglücklich über deinen Artikel. Warum läßt du nicht die Finger davon?“

Die Ayim-Journalistin Lusine Oganesjan beschloß, ihre Zeitung zu verlassen, nachdem diese ihren Artikel über die Situation in Karabach im Juni 1996 veröffentlicht hatte. Ihr Artikel, meines Wissens der einzige, der in der armenischen Presse vollständig über den Stand der Dinge in Karabach berichtet hat, entfachte einen Sturm der Entrüstung bei der Karabach-Führung, den oberen Rängen der Nationaldemokratischen Union (NDU) – der die Zeitung gehört – und bei diversen Oppositionsführern. Am Tag der Veröffentlichung rief der Oppositionskandidat der Präsidentschaftswahl, Wasgen Manukjan, mehrere Male den Präsidenten Karabachs, Robert Kocharjan (inzwischen Premierminister von Armenien), an, um das „Mißverständnis“ zu klären. In der nächsten Ausgabe distanzierte sich Ayims Chefredakteur, ein Mitglied des Eriwaner Presseclubs, in einer anonymen Stellungnahme von Oganesjans Artikel.

Es gibt Zeiten, in denen ich auf die „Coups“ meiner Kollegen neidisch werden könnte. Im April 1994 wurde der Parlamentsabgeordnete und Schriftsteller Wardges Petrosjan ermordet. Das Innenministerium setzte eine Belohnung von 10.000 US-Dollar für Hinweise zur Ergreifung der Täter aus. Im Juli 1996 brachte das Fernsehen plötzlich die sensationelle Meldung: Der Mörder ist gefaßt. Ohne jegliche Beweise wurde Petrosjans Witwe, Sona Tigrapjan, der Mittäterschaft angeklagt. Sieben Tage lang wurde sie im „Direktorat gegen organsierte Kriminalität“ festgehalten, dann drei Monate in der Isolationszelle eines Frauenarbeitslagers, wo man darauf bestand, sie solle endlich gestehen. Sie stand permanent unter Druck, nicht nur seitens ihrer Verhörer, sondern ihrer Zellennachbarinnen. Heute ist Tigrapjan frei und wartet auf ihren Prozeß, der vermutlich nie stattfinden wird.

Über all dies verlor die Presse kein Wort. Keiner schrieb, daß man kurz vor ihrer Verhaftung ihren Sohn entführt hatte und davor ihren Enkel. Die Anwälte Ruben Schakajan und Ruben Rschtuni lehnten ihre Verteidigung ab. Die russische Zeitung Komsomolskaja Prawda veröffentlichte im September 1996 einen Artikel ihres Eriwaner Korrespondenten Wardan Alojan über Tigrapjan. Als er später gefragt wurde, warum er vor der Veröffentlichung die Fakten nicht überprüft habe, gab er „ehrlich und wahrhaftig“ zu, er habe „auf Befehl“ geschrieben.

Das Thema Karabach ist sakrosankt

Einer der größten politischen Skandale folgte auf die Demonstrationen gegen die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 1996. Die Polizei hatte das Feuer auf Tausende von Demonstranten eröffnet, die sich vor dem Parlament im Zentrum von Eriwan zum Protest gegen Wahlfälschungen versammelt hatten. Der Präsident, der Innen- und Verteidigungsminister und der Generalstaatsanwalt veröffentlichten allesamt nur Droherklärungen gegen die Opposition. Am typischsten waren die Bemerkungen des Verteidigungsministers Wasgen Sarkisjan: „Selbst wenn die Opposition 100 Prozent der Stimmen errungen hätte, würden wir die Macht nicht an sie abgeben.“ Die Opposition und die unabhängigen Medien protestierten, verstummten jedoch, als Kocharjan sich den offiziellen Verurteilungen der Straßenproteste mit der Stellungnahme anschloß, daß die Instabilität Armeniens der jungen Republik Karabach schaden würde. Karabach und alles, was damit zusammenhängt, ist sakrosankt.

Die Medien kümmern sich in der Regel nicht um Menschenrechtsverletzungen, selbst wenn es um ihre eigenen Kollegen geht. Als 1992 zwei Journalisten der „Nachrichtenagentur der Selbstbestimmungsunion“ im Parlamentsgebäude zusammengeschlagen wurden, schrieb niemand darüber. Ebenfalls nicht berichtet wird über die Gestellungsbefehle von 1992/93, den andauernden Militärdienst armenischer Bürger in Nagorny Karabach und den besetzten Gebieten Aserbaidschans sowie den massenhaften Einzug armenischer Flüchtlinge aus Aserbaidschan zum Militär, obwohl sie nicht Bürger Armeniens sind.

Die Medien blieben ebenso stumm, als im April 1995 eine Terrorkampagne gegen religiöse Minderheiten begann, initiiert von den Einheiten der „Erkrapah“ (Wächter des Vaterlandes), einer paramilitärischen Organisation, die unter direkter Kontrolle des Verteidigungsministeriums steht und zum Waffentragen befugt ist. Statt dessen schrieb der Molorak (Planet) Anfang diesen Jahres: „Heute sollten alle gesunden Kräfte der Nation – Schriftsteller, Künstler und Akademiker – das gesetzliche Verbot aller Sekten [die offizielle Bezeichnung für religiöse Minderheiten] fordern. Tun sie es nicht, wird die kommende Generation das Gesetz [über die Freiheit des Gewissens] nicht als Gewissenfreiheit, sondern als Selbstaufgabe und Verrat ansehen.“

Unmittelbar darauf führte die parlamentarische „Komission für Fragen der Wissenschaft, Erziehung, Kultur und Jugend“ einen Zusatz zum Gesetz über die Gewissensfreiheit ein, der den Angriff auf religiöse Minderheiten legalisiert. Der Vorsitzende der Kommission, Rafael Papajan, ist Mitglied der herrschenden Armenischen Nationalbewegung, Doktor der Philologie – und ein ehemaliger politischer Gefangener des Sowjetregimes.

Mikael Danielyan ist Vorsitzender der armenischen Helsinki-Assoziation und Korrespondent von „Ekspress-Khronika“