Früher „Arbeit“, heute „Job“

Serie „Stets zu Diensten – die Dienstleistungsstadt“, Teil eins: Die neuen Branchen revolutionieren die Arbeitswelt ebenso wie die Lebensweise  ■ Von Hannes Koch

Als die Transformatorenfabrik von AEG-TRO in Oberschöneweide Ende vergangenen Jahres endgültig geschlossen wurde, räumte auch Hans Maronne seinen Werkzeugschrank leer. Dabei fiel ihm ein Foto von 1958 in die Hände. Dem 59jährigen Arbeiter kamen fast die Tränen. Die meisten der abgebildeten Gesichter kannte er noch persönlich. Maronne hatte viele Kollegen kommen und gehen sehen, denn er brachte es auf 44 Arbeitsjahre bei TRO. Doch dann wurde die Fabrik-Familie in alle Winde zerstreut.

Arbeitskarrieren wie die von Hans Maronne gibt es immer seltener. Im Trend der Zeit liegt eher die Biographie der 28jährigen Tanja Diezmann, die seit drei Jahren bei der Multimedia-Agentur Pixelpark arbeitet, in dieser kurzen Zeit in eine leitende Position aufstieg und schon zu den alten Hasen der Firma gehört. Auch sie hat viele der jungen, peppigen MitarbeiterInnen kommen und gehen sehen – allerdings in viel kürzerer Zeit als TRO- Arbeiter Maronne. Und auch Diezmann wird ihr Wunsch nach neuen Tätigkeiten und mehr Geld wohl in wenigen Jahren einen anderen Arbeitgeber suchen lassen.

Die beiden Biographien stehen für zwei Epochen: der Trafoarbeiter für das Industriezeitalter, Diezmann hingegen für die Dienstleistungsgesellschaft. Der Wandel ist ein grundsätzlicher: Nicht nur die wirtschaftlich dominierenden Techniken verändern sich, sondern auch die Arbeits- und Lebensweise der Mehrheit der Bevölkerung.

Die Generation der 50- bis 60jährigen strebte eine weitgehende Stabilität ihrer Arbeitsverhältnisse an, was in Ost- und West- Deutschland in der Nachkriegszeit durch Unternehmen und Regierungen sowohl gewährt als auch verlangt wurde. Noch 1993 wunderte sich eine altvordere Redakteurin des Neuen Deutschlands, daß der angehende Jungkollege keinesfalls beabsichtigte, bis zur Rente diesem Blatt seine Arbeitstreue zu halten. Die Mehrheit der Arbeitsplätze war in früheren Zeiten sicher, die Bezahlung für große Gruppen von Menschen auf demselben Niveau festgelegt, der Inhalt der Tätigkeiten änderte sich jahrzehntelang nur in kleinen Schritten.

Die Situation sieht heute für viele Beschäftigte ganz anders aus. Die Innovationszyklen der Produkte haben sich beschleunigt. Sogar ein Dinosaurier der Industrieepoche, der Siemenskonzern, rühmt sich mittlerweile, 70 Prozent seiner Produkte seien jünger als fünf Jahre. „Lebenslanges Lernen“ ist für Arbeitnehmer heute an der Tagesordnung. In der Datenverarbeitungs- und Multimediabranche läßt die atemlose Jagd nach neuen Produkten die Qualifikationen von ArbeitnehmerInnen innerhalb von Monaten veralten.

Was früher eine „Arbeit“ war, ist mittlerweile ein „Job“: Die Verweildauer der Beschäftigten sinkt, der Kündigungsschutz nimmt ab, mitunter sinkt der Lohn, während er früher immer stieg. Dienstleistung: Während die abverlangte Leistung, die Effektivität und Produktivität der Arbeit zunehmen, lassen die Einpeitscher der globalen Marktwirtschaft nicht nach, noch mehr Kreativität, Unterordnung und Leidensbereitschaft des Inviduums zu fordern. Die „TuArbeitnehmer: volle Kraft und auf eigenes Risiko

gend des Dienens“ sei hierzulande zu schwach ausgeprägt, um gegen die Konkurrenten auf den globalen Märkten bestehen zu können, läßt Bundespräsident Roman Herzog wissen.

Die Dienstleistungsgesellschaft freilich kann nur funktionieren, weil die heute 20- bis 50jährigen die postmaterialistischen Werte selbst mitbringen, die sie brauchen: Arbeit gilt nicht vordringlich als Mittel des Gelderwerbs, sondern als Medium der Selbstverwirklichung, das auch nach 60 Arbeitsstunden pro Woche seine Attraktivität nicht verliert. In der Wiederaneignung der entfremdeten Arbeit durch die 68er und ihre NachfolgerInnen liegt somit eine Wurzel der Produktivitätssteigerungen des Multimediazeitalters. Als neuer Typus des Arbeitnehmers wird uns vom Schweizer Gottlieb-Duttweiler- Manager-Institut der „Lebensunternehmer“ vorgestellt, der mit voller Kraft auf eigenes Risiko arbeitet, obwohl er nicht selbständig ist.

Diese physische und psychische Umstrukturierung hatte die Blockkonfrontation in Berlin lange Zeit wesentlich verlangsamt. Jetzt wird sie nachgeholt und trifft die Stadt mit Macht. Viele der alten industriellen Großunternehmen existieren nicht mehr. Währenddessen steigt die Zahl der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor an (siehe Kasten) und erreichte 1995 schon 72 Prozent der gesamten Beschäftigung. Dies zeigt aber auch gleichzeitig den Rückstand gegenüber anderen Städten: In München waren es 72,6, in Hamburg 74,6, in Frankfurt am Main 75,9 Prozent.

Der Siegeszug soll nach dem Willen des Senats und der Wirtschaftsbosse fortgesetzt werden. Was sich da aber entwickeln soll, zeigt exemplarisch ein berühmter Konflikt an der Ecke Oranienburger/Friedrichstraße in Mitte.

Um die Freifläche hinter dem Veranstaltungszentrum Tacheles herum, die die dortigen KünstlerInnen als „Skulpturenpark“ nutzen, will der Immobilienfonds Fundus bis 2002 das neue Johannisviertel errichten – 40 einzelne Gebäude mit teuren Wohnungen, erlesenen Dienstleistungen für Konsum der Reichen ...

Restaurants, hochwertigen Geschäften und Arbeitsräumen für moderne Medienunternehmen. „Als Vorbilder dienen das Viertel Marais in Paris sowie die Gegend um die Houston Street in New York“, schrieb das Handelsblatt im April. Diese Ähnlichkeit soll auch in der Anziehungskraft bestehen, die derartige Viertel auf betuchte Touristen aus aller Welt ausüben. Die reisenden KonsumentInnen allerdings, kommen sie in großer Zahl, treten fast automatisch in Konkurrenz zur ortsansässigen Bevölkerung.

Als Reaktion meinte die Stadtteilzeitschrift Scheinschlag ebenfalls im April, es sei „wunderbar“, wenn das Tacheles geschlossen würde. Mangels Publikum müßten dann über kurz oder lang auch die benachbarten Touristenrestaurants aufgeben, und schließlich läge sogar das Restaurant Oren „in the middle of nowhere“. Mit dem Veranstaltungszentrum Tacheles „steht oder fällt die Aufwertung der gesamten Spandauer Vorstadt“. Der Scheinschlag träumte weiter: Dann könnten in die freien Ladenlokale wieder Schuster, Lebensmittelgeschäfte und Läden für Kinderbekleidung einziehen. Denn dank sinkender Mieten werde sich das Dienstleistungsangebot erneut am Grundbedarf der örtlichen Bevölkerung und nicht länger am Wunsch der Reisenden nach überteuerten Geschenkartikeln orientieren.

Damit sind zwei teilweise gegensätzliche Entwicklungslinien innerhalb der modernen Dienstleistungsgesellschaft beschrieben. Senat, Industrie- und Handelskammer sowie die Wirtschaftsverbände fördern in den Innenstadtbezirken hochwertige Konsumdienste für die wohlhabende Hälfte der Bevölkerung und widmen sich besonders den „produktionsorientierten“ Dienstleistungen (siehe Kasten). Sowohl bei den teuren Konsum- als auch den Produktionsdiensten spielt die überregionale Konkurrenzfähigkeit eine große Rolle: Durch ihren Export will man den Wohlstand der Stadt steigern und die Rolle Berlins als wirtschaftliches Zentrum für andere Regionen ausbauen. „Üblicherweise herrscht in der Stadtökonomie die Vorstellung, daß nur solche Branchen etwas gelten, deren Produkte man außen verkaufen kann“, sagt Stadt...oder soziale Dienste für die ansässige Bevölkerung

soziologe Hartmut Häußermann von der Humboldt-Universität.

Dem steht der Ansatz gegenüber, Konsumdienste und soziale Einrichtungen zu entwickeln, die vor allem der ansässigen Bevölkerung zugute kommen. „Wahrscheinlich zwei Drittel der städtischen Arbeitsplätze“, so Häußermann, „leben davon, daß die Stadt sich selbst organisiert. Es ist eine bewohner-, eine lokal-, eine regional orientierte Ökonomie. Dafür muß man nicht ein Motorrad exportieren.“

Währenddessen pfeifen viele Geschäfte des Einzelhandels auf dem letzten Loch. Sie leiden unter den sinkenden Realeinkommen und der damit verbundenen Nachfrageschwäche. Zudem sind sie einem zunehmenden Verdrängungswettbewerb ausgesetzt. „Ein Drittel aller selbständigen Kaufleute werden bis 2010 aufgeben“, prognostiziert Niels Busch-Petersen, Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes. Denn in den östlichen Bezirken machen ihnen sieben, in Zukunft vierzehn große Einkaufszentren Konkurrenz. Mit Einzugsgebieten, die oft weit über die Stadtgrenze hinaus reichen, jagen die Glaspassagen dem Einzelhandel KundInnen ab. So dominiert auch hier mindestens teilweise die Außenorientierung über die Binnenorientierung, die sich an den Grundbedürfnissen des jeweiligen Stadtteils ausrichtet. Dies kostet letztlich auch Arbeitsplätze.

Bei den sozialen Diensten erscheint die Lage noch dramatischer. Sozialarbeit, Bildung, Jugendpflege, Altenversorgung, Kinderbetreuung – die Liste der Einrichtungen, die angesichts rigider staatlicher Sparmaßnahmen Beschäftigte entlassen und ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen können, ließe sich fortsetzen. Hier ist das Problem grundsätzlicher Natur: Hartmut Häußermann bezeichnet die Bundesrepublik im Vergleich zu Schweden als „rückständige Dienstleistungsgesellschaft“. In dem skandinavischen Land wählte die Regierung in den 60er Jahren die mittlerweile teilweise zurückgenommene Strategie, den öffentlichen Beschäftigungssektor massiv auszubauen und damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen zu schaffen. Stadtsoziologe Häußermann kommt in seinem Buch „Dienstleistungsgesellschaften“ zu dem Ergebnis, daß es auch in der Bundesrepublik nur möglich sei, die Arbeitslosigkeit durch die Erhöhung der Beschäftigung in den konsumorientierten und sozialen Dienstleistungen zu bekämpfen.

Danach sieht es hierzulande aber nicht aus. Der Zug der Zeit fährt eher in die Richtung der Deregulierung. Durch die Aufweichung von Tarifverträgen und die Erlaubnis niedriger Einstiegslöhne will man Unternehmen dazu bringen, den billiger werdenden Arbeitskräften Jobs anzubieten. ImmigrantInnen, die offiziell nicht arbeiten dürfen, schaffen außerdem einen grauen Stellenmarkt mit schlechtester Bezahlung. Hier die Rosenverkäufer, dort neue Schichten hochbezahlter junger Leute in den modernen Branchen: „Die Industriegesellschaft zeichnete sich durch eine relativ gleichmäßige Einkommensverteilung aus – im Vergleich dazu, was vorher war und was in Zukunft kommt“, faßt Soziologe Häußermann zusammen.

Nächsten Donnerstag: AktienhändlerInnen und Unternehmensberater