Was braucht Schottland Westminster?

Die Befürworter eines eigenen schottischen Parlaments glauben fest an ihren Sieg beim heutigen Referendum – spätestens nachdem Margaret Thatcher aufgefordert hat, mit Nein zu stimmen  ■ Aus Inverness Ralf Sotscheck

Für Norman Will ist die Sache klar: „In zehn Jahren ist Schottland vollkommen unabhängig“, sagt er. „Wenn die Menschen erst mal auf den Geschmack gekommen sind, werden sie sich mit einem Parlament, dessen Macht eingeschränkt ist, nicht mehr zufriedengeben. Das Referendum ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben nur ein Schritt.“

Will, Ende Dreißig, ist hektisch. Er ist der Geschäftsführer der Schottischen Nationalen Partei (SNP) in den Highlands; in dem winzigen Büro im obersten Stock des Highland Rail House gleich neben dem Bahnhof von Inverness herrscht rege Betriebsamkeit. Parteimitglieder schlagen die „Yes Yes“-Plakate in Plastikfolie ein, damit sie nicht naß werden, andere packen die druckfrischen Flugblätter aus.

Heute sollen die Schotten für ein eigenes Parlament stimmen, das zudem das Recht auf Variierung der Einkommenssteuer um drei Prozent haben soll. Außen- und Verteidigungspolitik, das Währungssystem und die Sozialgesetze bleiben Sache Londons. Premierminister Tony Blair hat versprochen, daß die Steuern für mindestens fünf Jahre nicht verändert werden. Dennoch fürchten drei von vier Unternehmern, so hat eine Umfrage ergeben, daß die Steuerhoheit, auch wenn sie beschränkt ist, zu Einbußen bei der Konkurrenzfähigkeit und Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften führen wird.

Will hält das Gegenteil für wahrscheinlich. „Schottlands Wirtschaft wird eine führende Rolle in Europa spielen“, sagt er. „Jetzt versickern die EU- Gelder in irgendwelchen unrentablen Projekten. Wenn die Schotten selbst über den Topf entscheiden, kann das Geld viel besser eingesetzt werden.“ Im Norden Englands sei man deshalb beunruhigt, weil die Leute eine Abwanderung internationaler Firmen nach Schottland erwarten, sagt Will.

Das Argument der Labour Party, daß ein schottisches Parlament die Union mit England stärken würde, hält er für töricht. „Unsere Zukunft liegt in Europa“, sagt er. „Die Schotten waren schon immer viel EU-freundlicher als die Engländer.“ Norman MacAskill von der Labour Party, die nur hundert Meter von der SNP im Queensgate Business Centre von Inverness residiert, hält das heutige Referendum ebenfalls für einen Schritt – jedoch nicht in Richtung auf Zersplitterung des Vereinigten Königreiches, sondern in Richtung Dezentralisierung. „Nächste Woche stimmen die Waliser über eine Versammlung für Wales ab“, sagt er, „und demnächst steht auch die Stärkung der Bezirksverwaltungen in England an. In London wird in Zukunft ein direkt gewählter Oberbürgermeister das Sagen haben.“

Labour, SNP und die Liberalen Demokraten haben für die Dauer des Wahlkampfes eine Koalition gebildet. Die Organisation „Scotland Forward in the Highlands“ besteht aus Mitgliedern aller drei Parteien, aber auch aus Parteilosen. Ihr Omnibus, der „Yes Yes Express“, hat in der High Street von Inverness geparkt, ein Dudelsackspieler im traditionellen Highland-Kostüm spielt „Flower of Scotland“, die inoffizielle Nationalhymne.

Drei Frauen und zwei Männer verteilen Flugblätter. Einer davon, der Labour-Mann Hugh Linley, ein junger Mann mit langen, dunklen Haaren und einem weißen „Yes Yes“-T-Shirt, glaubt an ein großes Ja für das schottische Parlament. „Drei zu eins, mindestens“, glaubt er. „Darauf deuten alle Umfragen hin. Bei der Frage zur Steuerhoheit wären wir mit einem kleinen Ja zufrieden. Es wäre das erste Mal, daß wir unsere Unabhängigkeit friedlich durchsetzen. Wenn wir es gewaltsam versucht haben, sind wir am Ende meist baden gegangen, zuletzt bei Culloden.“

Die Schotten hängen genauso wie die Engländer an ihren Schlachtfeldern, sie haben sie zu Nationaldenkmälern erklärt. Das Drumossie-Moor bei Culloden, wo am 16. April 1746 die letzte Schlacht auf britischem Boden ausgetragen wurde, liegt fünf Kilometer vor Inverness. Culloden ist ein dunkles Kapitel in der schottischen Geschichte, noch heute wird der Name nur mit gedämpfter Stimme ausgesprochen.

Die Highlands erholten sich von Culloden nicht mehr, das Clansystem wurde zerschlagen, Schottenrock und Dudelsack verboten. „Es waren die Lowlander, die Leute aus dem Tiefland, die uns verraten haben“, sagt Angus, der die Touristen über das Schlachtfeld führt. „1707 haben sie sich kaufen lassen und für die Auflösung unseres Parlaments gestimmt, und in Culloden kämpften eine ganze Reihe von ihnen auf Cumberlands Seite. Und wenn wir nun ein eigenes Parlament bekommen, wird es wieder von den Tiefländern beherrscht. Wozu soll ich also am Donnerstag wählen?“

Auf Leute wie Angus setzt Rosemary Tough, die Sekretärin der Hochland-Sektion der schottischen Tories. Das Parteibüro, ein kahler Raum mit zwei Stühlen, einem Telefon und einem Fotokopierer, liegt hinter der blauen Seitentür eines Möbelgeschäfts hoch über der Innenstadt. „Die Highlander mißtrauen dem Zentralgürtel um Glasgow und Edinburgh“, meint die grauhaarige, resolute Sechzigjährige.

„Die Unterstützung für die Unabhängigkeit war im Hochland immer geringer als anderswo. Was sollen wir auch mit einem Parlament? Das stiftet doch nur Verwirrung. Dann hast du Abgeordnete für Europa, Westminster und Edinburgh, dazu die Bezirksräte. An wen wendet man sich dann?“ Darüber hinaus hält es die Parteisekretärin für unfair, daß die englischen Abgeordneten in Schottland nichts mehr zu sagen haben, während die schottischen Westminster-Abgeordneten, die es ja auch bei einem schottischen Parlament weiterhin geben wird, über englische Angelegenheiten mitentscheiden dürfen.

„Dann ist der Spieß endlich mal umgedreht“, freut sich Norman Will von der SNP. „Aber mal im Ernst: Schottische Westminster- Abgeordnete haben wirklich Besseres zu tun, als zum Beispiel über das englische Gesundheitssystem zu debattieren, da haben sie sich bisher ja auch rausgehalten. Wir wollen gar keine Abgeordneten in Westminster haben – sollen sie uns doch in die Unabhängigkeit entlassen, dann ist die Frage gelöst.“

Ein schottisches Parlament böte auch den Tories eine Chance, findet er: „Da ein Teil der Abgeordneten nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden soll, haben sie erstmals wieder Aussichten auf das eine oder andere Mandat. Die Quittung für ihre Schottland-Politik haben sie bei den Wahlen im Mai bekommen.“ Seitdem haben die Tories keinen einzigen Abgeordneten nördlich der Grenze mehr. Während der Amtszeit Margaret Thatchers ist die Wut der Schotten auf die Tories immer größer geworden.

Deshalb rauft sich das versprengte Häufchen der schottischen Konservativen insgeheim auch die Haare über die Einmischung der ondulierten Baronin. Vorgestern warnte Thatcher die Schotten davor, durch die Zustimmung im Referendum „einen grollenden englischen Nationalismus zum Leben“ zu erwecken. „Die schottischen Wähler können ihrem Land keinen besseren Dienst erweisen, als mit Nein zu stimmen“, sagte sie.

Im Büro der SNP herrscht unverhohlene Freude über Thatchers Intervention. „Sie ist hier oben selbst bei den Tories äußerst unbeliebt“, sagt Norman Will. „Falls es noch irgendwelche Zweifel an dem Ausgang des Referendums gab, dann ist Thatcher der Garant für ein doppeltes Ja.“