Es gibt nicht „die“ Wahrheit

■ Eine Erwiderung auf die Erwiderung auf die These, das Familienbild des aktuellen Mainstream-Kinos sei reaktionär

In einer Reaktion auf meinen Szene-Text, der auf eine zunehmende Präsenz von patriarchal ausgerichteten und orientierungsstiftenden Familienstrukturen im Mainstream-Kino hingewiesen hatte, warf mir Hans-Arthur Marsiske tendenziöse Unaufmerksamkeit vor. Natürlich ergeben sich aus und über meinen Text Fragen, auf die näher einzugehen wäre. Inwiefern z. B. die reaktivierten Strukturen noch mit ihren Vorbildern vergangener Jahrzehnte identisch sind und wie es gelingt, gerade über die Inszenierung von Abwesenheit derartig tradierter Systeme ihre sichernde Funktion nur um so stärker hervorzuheben. Hier hätte eine Diskussion beginnen können.

Doch eben daran war Marsiske keineswegs gelegen. Er spekulierte vielmehr auf ein Diskurs-Abseits, indem er meine Position in die von ihm als anachronistisch ausgerufene Ecke der Ideologiekritik befahl. Wenn er dabei jedoch Ideologiekritik fröhlich mit Verschwörungstheorien über ein ideologisches „Zentralkomitee in Hollywood“ gleichsetzt, ignoriert Marsiske nicht nur, daß mein Text ausdrücklich von Marktbedingungen ausgeht, sondern zugleich auch die Debatten der letzten drei Jahrzehnte innerhalb der Filmkritik, die sich über die Kritik der „ästhetischen Linken“ entwickelt hatten.

Diese unscharfe und ahistorische Generalisierung Marsiskes korrespondiert mit seinem Ansatz zum Medium Film, der im zweiten Teil seiner Polemik erkennbar wird und wohl auch dafür verantwortlich ist, daß Marsiske am Zentrum meines Textes, der Konstruktion von geschlechtlichen Rollen, vorbeiargumentiert. Verantwortlich hierfür ist u. a. Marsiskes Begriff von Wahrheit, die für ihn rein und als solche zu existieren scheint, und die er nicht als vermittelte hinterfragt. So kann er pathetisch formulieren, die „Momente heftiger Gefühle“ seien „immer auch Momente der Wahrheit“. Wie sich seine „Wahrheit“ jedoch mitteilt, wodurch seine „heftigen Gefühle“ erzeugt werden, welche Angebote die Filme machen und daß es „diesen Film“ genausowenig gibt wie „die Wahrheit“, ignoriert Marsiskes Kritik. Ähnlichem Begradigungsdenken entspringt sein Ideologiekritik-Begriff.

So kann folgerichtig gerade die Zuschreibung von Geschlechter-Rollen bei Marsiske kein rechtes Thema werden. Denn für ihn scheint Familie als „diese Institution“ ebenso „einfach“ zu existieren, wie „Wahrheit“. Unverzichtbar bleibt es gleichwohl, eben darauf zu kommen, unter welchen Prämissen sich Familie konstituiert, ein Familienbild sich präsentiert. Dabei sind Rollendefinitionen entscheidend.

Insofern führt Marsiskes eilfertiger Umgang mit Annahmen in genau die falsche Richtung. Gerade im Sinne der Verhinderung eines generalisierenden Zugriffs auf Film, der die Widersprüche zudeckt, muß, bevor eine „Institution“ Familie verteidigt werden kann, danach gefragt werden, wodurch sie konstruiert wird. Sonst läuft die Filmkritik Gefahr, die Überprüfung der Vermittlung von Bildern und Eindrücken zugunsten einer haltlosen Gesamtbeurteilung „des Bildes“ und „des Eindrucks“ zu opfern.

Jan Diestelmeyer