Depression in Pantoffeln

Der eine treibt Ausdrucksgymnastik, der andere bricht in ein „Ave Maria“ aus, dann wieder schauen alle zu Boden: In der Volksbühne hat Marthaler Tschechows „Drei Schwestern“ inszeniert  ■ Von Petra Kohse

Der alte Ferapont geht in den Salon. Er schlurft die Galerie entlang, müht sich die Treppe zur Brücke hoch, schleppt sich zur anderen Seite, täppelt hinab, schafft auch die vorletzte Treppe noch, die letzte fast – und kehrt dann panisch um. Das Haus der Prozorovs in Tschechows „Drei Schwestern“ – bei der Bühnenbildnerin Anna Viebrock ist es ein Altersheim, ein Krankenturm, ein Sterbeschiff. Vom Salon aus geht es abermals tiefer, zur vollgestopften Eßecke im Orchestergraben und durch eine Falltür nach unten. Nach draußen? Wohl kaum. Auch aus der quadratischen Bodenöffnung unter der Treppe flimmert Hinabblickenden das Nichts entgegen.

„Man wird vergessen. Das ist schon so unser Schicksal, da kann man nichts machen.“ Der alte Ferapont (Ulrich Voß), der es schließlich doch gewagt hat, den Salon zu betreten, sitzt in einer Ecke und liest, mühsam buchstabierend, aus dem Buch ab, was Werschinin, der Oberstleutnant aus Moskau (aus Moskau!), irgendwann zu Mascha sagen wird: „Das, was uns ernsthaft scheint, bedeutungsvoll, äußerst wichtig, das wird – kommt nur die Zeit – vergessen werden oder unwichtig erscheinen.“ Später steht Ferapont auf der Treppe und malt die floralen Motive des Geländers grün an, während Clemens Sienknecht, der Musiker, die ganze Zeit über Wehmütiges erklingen läßt.

Depression in Pantoffeln – dies ist die Welt von Christoph Marthaler. Dem Regisseur des Jahres 1997, der auch Regisseur des Jahres 1994 war. Dem 46jährigen Schweizer Musiker und Regisseur, der das Theater als Wartesaal komponiert. Oder besser: der in Wartesälen Theater komponiert, als liebevolles Arrangement von vielen kleinen, komisch zwangsneurotischen oder kindischen Ausbrüchen, mit denen die Figuren ihre tragische Verlorenheit in der Zeit zu kompensieren suchen.

Depression in Pantoffeln – dies ist, ignoriert man den Eleganzverlust, auch die Welt des Anton Tschechow (man kann sie so sehen). Wenn Heide Kipp, Susanne Düllmann und Olivia Grigolli als Olga, Mascha und Irina im Gleichschritt die Treppe herabrollen, wenn sie ausdruckslos ihren Text leiern oder minutenlang auf ihre Schuhspitzen starren, dann ist das Tschechow, wie er im Buche steht, nur noch entschlossener frustriert. Auch Matthias Matschke, der als Leutnant hingebungsvoll Ausdrucksgymnastik betreibt und mit ernster Miene durch den Salon federt, oder Winfried Wagner, der als Stabshauptmann plötzlich mit mechanischer Entflammtheit in ein „Ave Maria“ ausbricht, sind betörend marthalerisierte Zuspitzungen von Tschechow-Gestalten.

Andererseits ist Tschechow nicht Beckett. Man wartet bei ihm nicht nur. Man hofft auch noch. Man hofft wirklich. Und – dramatischer Konflikt! – hofft doch vergebens, weil von der eigenen Zeit die letzten Stunden schlagen und die neue Uhr schon tickt: Lopachin im „Kirschgarten“ oder Natalja, die ordinäre Frau des Prozorov-Bruders Andrej in den „Drei Schwestern“, sind vitale Boten einer zukünftigen Proletarisierung des Landes. Herzlos und pragmatisch brechen sie in die Salons ein und haben bald alles in der Hand.

Nicht so bei Marthaler. Hier gibt es keine ungebrochenen Töne. Weder echte Hoffnung noch Vitalität. Der Fahrplan der Züge nach Moskau hängt hinter Glas an der Wand, und die Schwestern sprechen, wenn sie vom Wegfahren sprechen, wie im Wahn. Während Jeannette Spassova als Natalja auch eher Hexe als Bäuerin ist, verschlagen statt kräftig, verworren statt derb. Daß es weder Hoffnung noch Zukunft gibt, ist als Ansicht natürlich zeitgemäßer als Tschechow, und das Ensemble spielt hinreißend und lustig, und Klaus Mertens, der wohl bezauberndste Bühnenspießer dieses ausgehenden Jahrtausends, ist auch dabei.

Trotzdem kommt Langeweile auf. Nicht nur marthalerisch allmählich, sondern gleich von Anfang an. Denn Tschechows hoher Ton der Sehnsucht, der durchaus rühren kann – hier wird er methodisch ausgehöhlt, und das lähmt. Tatsächlich hat der Regisseur die Tschechowschen Konflikte und Leidenschaften, Irrungen und Wirrungen, ja überhaupt alles Hochfliegende in seinem Theaterkosmos schon längst überwunden. Wenn in Zimmern ohne Aussicht tonlos von Bäumen die Rede ist, wird lediglich das Offenbare illustriert: virtuoser Leerlauf.

Aber nicht ohne Selbstironie. Am Ende will der alte Ferapont etwas vorlesen, vielleicht einige der letzten Sätze des Textes: „Wir werden leben!“ oder „Die Musik spielt so lustig, so froh...“ Doch das Buch fällt auf den Boden – und er ist zu steif und zu alt, es zu erreichen.

Am 19./20.9., 19.30 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz