Das Hochparterregefühl Von Klaudia Brunst

„Dieses dunkle Loch?“ riefen meine Freundin und ich wie aus einem Mund aus, als unser Hausbesitzer unsere Doppelkopfrunde störte, um darauf aufmerksam zu machen, daß demnächst die Wohnung im ersten Stock rechts frei werden würde.

Eigentlich war es ja durchaus nett gemeint. Seit wir im Zuge unserer Renovierungsarbeiten die gesamte Wohnung praktisch noch einmal aufgebaut haben, haben wir bei unserem Vermieter offensichtlich einen Stein im Brett. „Wissen Sie“, erklärte er uns sein Anliegen und vermied es sorgsam, dabei unsere Nachbarin anzublicken. „Wissen Sie, mir gefällt das, wie Sie die Treppe wischen. So regelmäßig macht das sonst niemand im Haus.“ Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ist es nicht schwer, sich in diesem Punkt von unserer Hausgemeinschaft abzuheben. Die anderen Mietparteien putzen eigentlich sowieso nur einmal im Jahr: Am 15. Februar, wenn die alte Dame von oben Geburtstag hat.

Jedenfalls ist unser Vermieter auf der Suche nach neuen Mietern und hatte sich gedacht, wir wüßten vielleicht jemanden mit angemessenem Hang zum Treppenputzen. „In dieses dunkle Loch?“ wiederholte meine Freundin noch einmal. „Am liebsten hätte ich ja eine Familie mit Kindern“, entgegnete unser Vermieter ungerührt. „Aber da können Sie mir ja wohl nicht weiterhelfen, was?“ Erschrocken über die Perspektive schreiender Kleinkinder, schüttelten wir heftig den Kopf. „Bedenken Sie die laute, stinkige, düstere Straße. Am Ende haben Sie da noch das Jugendamt auf dem Hals“, sprang unser schwuler Freund in die Bresche, erntete damit aber nur ein ungläubiges Kopfschütteln.

„Junger Mann“, setzte unser Vermieter noch einmal an. „Sie haben ja keine Ahnung. Das da unten ist die schönste Wohnung des Hauses. Nicht umsonst wohnten früher dort immer die Hausbesitzer selbst.“ – „Weil man da am besten die Mieter observieren kann“, konterte unsere Nachbarin etwas vorlaut. Und bezweifelte nochmals, daß für diese heruntergekommene Kaschemme überhaupt solvente Mieter gefunden werden könnten. „Zudem verfügt die Wohnung über ein bezauberndes Stabparkett und in allen Zimmern über feinziselierten Stuck.“ – „Etwa auch im Klo?“ – „Überall.“ Der Mann ließ sich einfach nicht aus der Ruhe bringen.

Vielleicht war es seine Hartnäckigkeit, die uns dazu brachte, die Angelegenheit einmal aus seiner Perspektive zu betrachten. Vielleicht wollten wir aber auch einfach nur so schnell wie möglich wieder ungestört weiter Karten spielen können. Jedenfalls kramten wir nun pflichtbewußt unsere Adreßbücher durch auf der Suche nach möglichen Interessenten. „Sehen Sie“, schwärmte derweil unser Vermieter weiter. „Es ist das einzigartige Wohngefühl. Das muß man entweder mögen oder eben nicht. Heute, da wollen die jungen Leute immer bloß über die Dächer schauen. Fünf Stockwerke ohne Aufzug, aber sich beim Kistenschleppen fühlen wie Graf Koks von der Gasanstalt. Hochparterre! Das ist ein ganz anderes Lebensgefühl: abgehoben von den vorbeihuschenden Menschen auf dem Bürgersteig. Aber auch wieder mittendrin im urbanen Treiben der Metropole. Laut und dunkel, sagen Sie? Ich sage nur zwei Wörter: Beletage! Und jünger werden Sie schließlich auch nicht.“