Kommentar
: Verdrängung oder Faszination?

■ Marginalisierung

Die jüngst in der französischen Presse erschienenen Artikel über Eugenik in Schweden und die französische Praxis der Zwangssterilisierung haben die Debatte über Eugenik wieder aufleben lassen. Eine historische Realität wird entdeckt, die nicht nur Nazideutschland betroffen hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die USA, Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und die Schweiz Gesetze beschlossen, die die Sterilisation von Geisteskranken und angeblich sozial unangepaßten Menschen ermöglichten. Grundlage waren theoretische Ansätze, die von Wissenschaftlern in Europa allgemein geteilt wurden. Vor allem in Frankreich stützten die auf einer Angst vor dem „Niedergang der Rasse“ gegründeten eugenischen Thesen die Idee, daß Wahnsinn, Elend und soziale Marginalisierung Ergebnis eines erblichen degenerativen Prozesses waren, der zukünftige Generationen bedrohe. Im Namen des Fortschritts wurde der Gesundheits- und Sozialpolitik vorgeworfen, das Spiel der natürlichen Selektion zu stören und zugleich der Allgemeinheit unannehmbare Kosten aufzubürden.

Selbst wenn diese ideologischen Postulate heute verschämter vorgebracht werden, weiß man, daß die Sterilisationspraxis nach dem Zweiten Weltkrieg nicht endete. Wieso wurde über diese Frage in der Presse bis vor kurzem geschwiegen? Verdrängung der Geschichte oder Faszination für einen Diskurs, der im Namen der Wissenschaft so tut, als löse er die sozioökonomischen Probleme einer Gesellschaft in der Krise und kläre die nationalen Prioritäten der Allgemeinheit? Viele Wissenschaftler nehmen sich zunehmend das Recht heraus zu sagen, wie sich öffentliche Ordnung und individuelle Freiheit vertragen sollten. Jede Abweichung von der etablierten Norm wird zum Untersuchungsgegenstand und muß als Krankheit oder Behinderung behandelt werden, die man marginalisiert, um sie besser zu kontrollieren. Auch die Sphäre der Sexualität entgeht dem nicht.

Eine Empfehlung der Nationalen Ethikkommission vom 19. April 1996 hat in Frankreich heftige Proteste hervorgerufen. Die Kommission befand, daß für geistig Behinderte in gewissen Fällen eine Sterilisation in Frage komme. Zwar wurde nicht klar definiert, was eigentlich eine Behinderung ist – so klebt an dem Begriff die Konnotation von Unzulänglichkeit, Unfähigkeit oder gar „Unwertigkeit“ in bezug zur übrigen Gesellschaft. Dennoch nannte die Kommission Kriterien für eine Sterilisation wie „Gebrauch toxischer Substanzen (Alkohol, Medikamente, Drogen) oder eine sexuelle Aktivität, die vor allem Frauen dem Risiko der Gewalt und daher der unvorhergesehenen Schwangerschaft aussetzt“. Der Vorschlag, anerkannte Sterilisationszentren einzurichten, öffnet dann die Möglichkeit, diese Aktivitäten zu legalisieren. Anne-Laure Simonnot

Die Autorin ist Psychiaterin im staatlichen Hôpital Avicenne in Bobigny bei Paris