Das Primat des Gemeinwohls

Die Regierungen der nordischen Länder Europas wollen das Kapitel der „barbarischen“ Zwangssterilisierungen aufarbeiten  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

„Mir hat niemals die Hand gezittert, ich habe nie Zweifel gehabt und niemandem unrecht getan.“ Erlind Rudkilde, Psychiater im Jönköping im Süden Schwedens, würde auch heute „alles genauso machen“. Als Oberarzt hat er am damaligen Nervenkrankenhaus Ryhov von 1958 bis Anfang der siebziger Jahre rund hundertfünzig Zwangssterilisierungen durchgeführt. „Ich machte die Eingriffe, um die Menschen vor sich selbst zu schützen und im Interesse der ungeborenen Kinder“, sagt er. „Feige“ und „verfehlt“ sei die jetzige Debatte.

Rudkildes grundsätzliche Einstellung zu dem, was er tat, wird durch unentschuldbare übergriffe erschüttert: „Junge Mädchen wurden auf Betreiben ihrer Eltern in den 50er Jahren zwangssterilisiert, weil diese meinten, ihre Töchter ,trieben sich zuviel herum‘“, so Rudkilde. „Ein uneheliches Kind zu bekommen, war damals eben ein Skandal.“

Das Thema der massenhaften Zwangssterilisierungen schlägt in Schweden und seinen Nachbarländern weiterhin hohe Wellen. Neben Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen hat das auch erste Folgen gezeitigt. In Schweden hat die Regierung eine Untersuchungskommission eingesetzt, die das dunkle Kapitel des Wohlfahrtsstaats in „seinen historischen Zusammenhang“ stellen soll. Klar ist außerdem, daß Schadenersatzforderungen nicht mehr an der bisherigen Begründung – was damals Recht war, könne nicht zur Entschädigung führen – scheitern sollen.

In Dänemark will sich Sozialministerin Karen Jespersen erst einmal „einen Überblick verschaffen“, um anschließend ihrer Regierung „Konsequenzen“ vorschlagen zu können. Gebündelt will eine in Norwegen gegründete Organisation Schadenersatzansprüche durchsetzen, und in Finnland wird diskutiert, die 30jährige Verjährungsfrist für Ansprüche gegen den Staat aufzuweichen. Hier scheinen im übrigen Zwangssterilisierungen weit üblicher gewesen zu sein als in Schweden. Obwohl noch längst nicht alle Archive ausgewertet wurden, ist man hier bereits auf 57.000 Fälle zwischen 1935 und 1970 gestoßen – fast so viele wie in Schweden trotz nur halb so großer Bevölkerungszahl.

Auf die Frage nach dem „Warum?“ rechtfertigen sich die direkt Beteiligten bislang vorwiegend mit dem damaligen Zeitgeist. Gynäkologe Marc Bygdeman: „Ich hätte gegen das Gesetz verstoßen, wenn ich mich geweigert hätte. Heute meinen alle, daß wir das Falsche taten. Doch damals gab es keinerlei Widerstand.“

Auch dem schwedischen Ärzteverbandsvorsitzenden Anders Milton reicht diese Erklärung: „Es stand in Übereinstimmung mit dem Gesetz, und es war politisch korrekt. Der einzelne Arzt mußte sich keine Gedanken machen, ob es ethisch vertretbar war oder nicht. Das hatte ja schon die Sozialbehörde entschieden. Daß die Rechte der Allgemeinheit wichtiger waren als die des einzelnen, war zu dieser Zeit eine Selbstverständlichkeit.“

In der veränderten Bewertung der individuellen Rechte sieht die dänische Historikerin Lene Koch auch einen entscheidenden Grund dafür, warum das Thema Zwangssterilisierung plötzlich solche Aufmerksamkeit erregt. Seit Ende der sechziger Jahre hätten sich auch in Nordeuropa WissenschaftlerInnen ausführlich damit beschäftigt. Nicht nur eine ganze Reihe von Fachpublikationen sei erschienen, sondern auch die Presse habe teilweise schon vor zehn Jahren die Fakten veröffentlicht, die nun solches Aufsehen hervorgerufen hätten.

Dieselben Zeitungen, die vor fünf, sechs Jahren das Thema Zwangssterilisierung als „zu alt“ und „nur von historischem Interesse“ abgewiesen hätten, füllten nun damit viele Seiten.

Lene Koch, deren Buch „Rassenhygiene in Dänemark 1920–1956“ bereits vor zwei Jahren herauskam, aber erst jetzt eine breite öffentlichkeit interessiert, vertritt die These, daß es die Möglichkeiten der modernen Genetik sind, die dafür sorgen, die Themen Rassenhygiene und Zwangssterilisierung plötzlich aktuell zu machen: „Heute gibt es wissenschaftlich eigentlich keinerlei Begrenzung mehr dafür, was in Hinblick auf die eigenen Wünsche von einzelnen an der Manipulation von Nachkommen technisch machbar erscheint.“

Selbst wenn die heutige Sichtweise eine solche staatliche Barbarei, wie sie noch vor einigen Jahrzehnten allgemein akzeptiert war, unmöglich machen dürfte, bestehe die Gefahr „privater Barbarei“ durch die Hintertür. Auffallend sei, wie bereitwillig gerade linksliberale Medien in den letzten Monaten ihre Spalten für Thesen etwa eines Philippe Rushton geöffnet hätten, der Kriminalität und mangelnde intellektuelle Fähigkeiten für genetisch angelegt und daher „heilbar“ erklärt.