„Ich würde gerne unsichtbar sein“

Das Bedürfnis, sich zu verstecken, die Kunst, zu überleben, und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit: Die Schriftstellerin Anja Lundholm wird mit dem Hans-Sahl-Preis ausgezeichnet  ■ Von Anja Tuckermann

Stets sorgfältig geschminkt zeigt die 79jährige Schriftstellerin Anja Lundholm sich ihren Gästen, egal, ob es Freunde sind oder nur der Postbote. Für die Begegnung mit der Außenwelt braucht sie Wimperntusche, Lippenstift und Make- up. In dem Roman über ihre Kindheit schrieb sie: „Wenn ich größer bin, werde ich mich auch anmalen, nicht nur so leicht wie Mutter, sondern richtig bunt, bis man mein Gesicht gar nicht mehr erkennt. Es muß schön sein, sich dahinter verstecken zu können. [...] Dann ist man jemand anderes und unsichtbar für die übrigen Menschen. Ich würde furchtbar gern unsichtbar sein. Dann können sie mir nicht weh tun.“

Anja Lundholm wurde 1918 als einziges Kind einer jüdischen Mutter großbürgerlicher Herkunft und eines deutschnationalen Vaters geboren. Der Vater, seit 1933 SS-Mitglied, zögerte nicht, sie mit Schlägen und Hundepeitsche zu Disziplin und Ordnung zu erziehen. 1936 begann sie in Berlin Musik und Schauspiel zu studieren, hatte kleine Rollen bei der Ufa. Als das Leben in Deutschland auch für die sogenannten „Mischlinge“ immer bedrohlicher wurde, floh sie 1941 mit gefälschtem Paß nach Italien und schloß sich einer Widerstandsgruppe an. 1943 wurde sie in Rom verhaftet, nach Verhören im Polizeigefängnis Regina Coeli in ein Gefängnis in Innsbruck und von dort ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gebracht. 1945, an ihrem 27. Geburtstag, wenige Tage vor Kriegsende, konnte sie fliehen. Da hatte sie teilweise ihr Gedächtnis verloren und war schwer krank.

Die eigenen Emotionen herausnehmen

Über die Zeit im Lager, die Erfahrungen davor und danach hat Anja Lundholm sieben autobiographische Bücher geschrieben, zusammen mit sechs weiteren Romanen ein beachtliches, aber viel zu wenig beachtetes Werk. Ihre Bücher fallen durch eine knappe Sprache auf, die nicht anklagt, sondern die Dinge mit größter Genauigkeit benennt. In „Im Höllentor“, sagt sie, „nahm ich die Leser bei der Hand und führte sie rein ins Lager und sagte: Paß auf, du bist jetzt auch ein Häftling hier, und das geschieht hier. Ich wollte verhindern, daß die Leser sofort wieder absprangen und sagten, davon will ich gar nichts mehr wissen und hören, das ist ja schrecklich. Ich habe die eigenen Emotionen herausgenommen und auf die Leser delegiert. Ich sage ihnen nicht, wie die Gefühle sind oder wie sie sein könnten. Das müssen sie selber herausfinden.“

Unendlich schwer sei es gewesen, nach den Jahren der Gefangenschaft, anfangs oft todkrank, überhaupt wieder ins Leben zurückzufinden. „Lange Zeit, und für mich muß ich sagen, das bezieht sich auf das Heute noch, lebten wir zwischen beiden Welten. Die zu vereinen ist fast unmöglich. Und die ganze Spanne, in der man so krank war, die ist natürlich nicht genutzt worden von uns, um Erklärungen zu bieten. Dadurch sind viele Irrtümer entstanden, Verfremdungen.“ Auch gegen gewollte Verfremdungen, die die ehemaligen Opfer in Kategorien einteilen und für ihre jeweilige Politik funktionalisieren, wehrt sie sich. „Das Höllentor“ beispielsweise war in der DDR verboten – Anja Lundholm war weder Arbeiterkind noch Kommunistin.

In der 1994 eröffneten Dauerausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück über ehemalige Häftlinge, besonders auch diejenigen, die künstlerische Zeugnisse geschaffen haben, kommt sie bis heute nicht vor. Woran liegt das? „Vielleicht, weil ich nie wieder dort gewesen bin, auch zu dem großen Treffen der ehemaligen Häftlinge am 50. Jahrestag der Befreiung war ich nicht da. Aber wie hätte ich denn hinkommen sollen?“ Seit Anfang der 50er Jahre leidet Anja Lundholm an multipler Sklerose, eine Folge von Injektionen im Lager. Anders als viele andere MS- Kranke hat sie sich mit großer Kraft- und Willensanstrengung das Laufen wieder beigebracht. Sie kann allein in ihrer Wohnung in Frankfurt am Main leben und sich weitgehend selbst versorgen; doch ohne Begleitung die Wohnung zu verlassen ist nahezu unmöglich.

Ein Film für Spielbergs Shoah-Foundation

Von Fotos kennt sie die in Ravensbrück aufgestellten Mahnmale. Die sagen ihr nicht besonders zu. „Um Gottes Willen, wir standen nicht in Nachthemden mit langen, triefenden Haaren da, irgendeine Halbgestorbene im Arm, und guckten sehnsüchtig über den See. So ein Blödsinn! Wir trugen die nicht, sondern schmissen sie auf den nächsten Wagen, dann wurden sie verbrannt. Die Asche haben wir in den See gekippt. Und zwar ganz munter.“

An das erinnern, was ihr selbst und anderen in diesem Land widerfahren ist, will sie dennoch, und sei es noch so schwer. „Ich sehe überhaupt nicht ein, daß Abertausende von Menschen zu Tode gequält wurden, und die anderen sind zu feige, es auch nur zu hören heute.“ Auch deshalb war der Besuch eines Filmteams der Shoah- Foundation von Steven Spielberg ungeheuer wichtig für sie. Ihr gefiel die Idee des digitalen Info-Centers über die Verfolgung der Juden. Als sie aber die Fragen hörte, die ihr gestellt wurden, fühlte sie sich immer unbehaglicher und schließlich wie bei der Gestapo. „Ich versteinerte. Es war eine ausgesprochene Interrogation, ein Verhör.“ Der junge Germanistikprofessor aus New Jersey, der das Interview führen sollte, hielt zum Glück nicht lange durch. Und „endlich haben die das auch kapiert, und dann habe ich angefangen zu erzählen. Das ganze Team vergaß, daß es Regeln hatte, die es befolgen sollte, und lauschte mit halboffenem Mund.“ Und so wurde der Film statt der geplanten zwei fünfeinhalb Stunden lang.

Von den Möglichkeiten des Info-Centers ist Anja Lundholm begeistert. „Jeder Besucher kann sich da aussuchen, was ihn interessiert aus jener Zeit. Zum Beispiel, er würde fragen, was war eigentlich in Italien? Dann wird ihm gesagt, mit welcher Taste er diese Information finden kann. Die sucht er sich, und dann steht da Anja Lundholm. Und auch, wenn ich schon 100 Jahre oder 200 Jahre tot bin, komme ich da wieder an, so wie ich jetzt aussehe, und erkläre ihm die ganze Geschichte – das finde ich phantastisch. Da ist schön, wenn man stirbt oder sterben muß und denkt: Ach, ich bin ja da, Knopfdruck genügt, ich komme wieder. Das ist doch einfach toll! Du wirst richtig unsterblich gemacht.“