SS-Runen auf Hertha-Fahnen

■ Seit Juni elf Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung gegen Fußballfans. Polizei: Neue, rechte Gruppen im Osten. Die jüdische Gemeinde lud zur Diskussion

Was die alte Dame, eine Holocaust-Überlebende, Anfang August in der U-Bahn zu hören bekam, erinnerte sie „an ihre schlimmste Kinderzeit in Nazideutschland“. – „Ab nach Auschwitz. Ab ins Gas. Juden, Juden!“ skandierten jungen Männer, die, jedenfalls von der Kleidung her, als Anhänger von Hertha BSC auszumachen waren. Die Fußballsaison hatte begonnen. Hertha BSC war aufgestiegen in die 1. Bundesliga. Und wieder einmal waren Naziparolen zu hören. Fan- Beauftragter Michael Drothuhn würde die, die sie benutzten, nicht als Hertha-Fans bezeichnen.

Die alte Dame, „von dem Vorfall tief beunruhigt“, wandte sich an den Jüdischen Kulturverein, deren Mitglied sie ist. Eine Diskussionsrunde wurde einberufen: Naziparolen zur Fußballsaison?

Die Fakten: 85 Ermittlungsverfahren gegen Hertha-Fans laufen seit Anfang Juni, 11 davon wegen Volksverhetzung („Ricken, du Judensau“) und Benutzen von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS-Symbole auf Hertha-Fahnen, Verwenden der alten deutschen Kant- und Balkenschrift). Die anderen Anzeigen lauten auf Haus- und Landfriedensbruch oder schwere Körperverletzung. „Eigentlich“, so Hubert Müller vom Landeskriminalamt, seit 18 Jahren mit der Fußballszene vertraut, „hat die Saison ruhig begonnen.“ Daß sogenannte „Hertha-Fans“ mit Naziparolen zu provozieren versuchen, ist nichts Neues. Schon vor der Wende wurde „Sieg Heil!“ gerufen, wurden Schiedsrichter als Juden beschimpft, hatte Hertha das Image als „rechter Fußballklub“ weg.

Fan-Beauftragter Michael Drothuhn sucht Erklärungen und flüchtet sich in das Massenphänomen. Zu Zweitliga-Zeiten hätten 800 Fans im Hertha-Block gestanden, „da kannte man jeden persönlich“. Jetzt seien es 6.000, und es seien welche darunter, „die wir uns nicht wünschen“.

2.300 Fans sind in den 102 Fan- Klubs organisiert, die anderen gehen in der Masse unter. Warum die Organisierten nicht auf die rechten Einzelgänger reagieren? Den Fans fehle noch die Zivilcourage und der Mut, zu sagen: „Hört auf damit!“ Polizeioberrat Klaus Keese hat die Erfahrung gemacht, daß Polizisten, wenn sie eingreifen wollen, von anderen Fans behindert werden.

Eine neue „Fan“-Klientel hat Hubert Müller ausgemacht: Jugendliche aus dem Osten. „Ich war überrascht, daß Leute, die im Sozialismus aufgewachsen sind, sich verbal nationalsozialistisch äußern.“

Seit kurzem fährt die Polizei eine neue Strategie: Gefahrenabwehr. Das heißt: Jugendliche schon auf dem Weg ins Stadion in Gewahrsam nehmen. Dennoch kommt es vor, wie kürzlich beim Länderspiel Deutschland–Portugal, daß beim Erklingen der Nationalhymne der Arm ausgestreckt wird. „Die Personen haben wir sofort rausgezogen“, sagt Keese.

Hertha will Lehren ziehen, wieder einmal. Ein Aufklärungsflugblatt verteilen. Eine Fahrt nach Oranienburg und, vielleicht, eine Diskussion mit Holocaust-Überlebenden organisieren. Auf jeden Fall will man einen Selbstreinigungsprozeß innerhalb der Fan- Blocks erreichen. Jens Rübsam