Die weite Ferne von nebenan

Großstadtmenschen wechseln zwischen nah und fern, zwischen Kiez und Fernreise. Mobilität wird zum Wert an sich. Verkehrsvermeidung dagegen ist aus der Mode geraten  ■ Von Weert Canzler und Andreas Knie

Im Januar dieses Jahres sorgte eine Äußerung des für Umweltschutz und Stadtentwicklung zuständigen Berliner Staatssekretärs Hans Stimmann nicht nur in Berlin für viel Aufregung. Mit Blick auf Verdichtungsplanungen für die Berliner Innenstadt meinte er: „Die Lebensstile haben sich geändert. Jeder von uns fliegt doch nach Mallorca oder Hawaii oder fährt zumindest ins Umland. Jeder geht ins Fitneßcenter. Wer braucht da noch wohnungsnahe Grünflächen?“ Wenn diese Einschätzung von Stimmann tatsächlich zuträfe, dann wäre die Philosophie fortschrittlicher Stadt- und Raumplaner sowie kritischer Verkehrswissenschaftler ins Mark getroffen. Denn dort herrscht die Meinung, daß die jahrzehntelang getrennten Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholen wieder zusammengeführt werden müssen.

Städtische Räume sollen funktionell verdichtet werden, damit Urbanität gedeihen und Verkehr verringert werden kann. Mischnutzung heißt das Zauberwort. Ziel ist es, die Attraktivität von Nahräumen wiederzugewinnen und eine neue Identität mit dem Kiez entstehen zu lassen. Der Wunsch nach verkehrserzeugenden kleinen oder großen Fluchten soll gar nicht erst aufkommen. Dahinter steckt die Erwartung, räumliche Nähe könne durch eine veränderte Stadt- und Raumplanung erzeugt und gefestigt werden. Wenn Stadtmenschen weniger oft hinausfahren und kürzere Wege bevorzugen, die Zielpunkte kompakter versammelt sind, werden Verkehrsströme wieder bündelungsfähig, der viel gescholtene öffentliche Verkehr kann wieder attraktiver werden.

Nun stehen diese lobenswerten Ziele einer nachhaltigen Stadtentwicklung aber in einem so krassen Widerspruch zu realen Wanderungsbewegungen, daß man sich fragen muß, ob der Berliner Staatssekretär vielleicht doch die richtige Diagnose gestellt hat. Zum einen hält die Stadtflucht der Mittelschichten, insbesondere der Familien mit Kindern, an. Damit wird zusätzlicher Verkehr erzeugt, denn die Anschaffung eines Zweitwagens ist dann nahezu obligatorisch.

In Berlin erleben wir zur Zeit keine nachhaltige, sondern eine nachholende Entwicklung. Bis 2010 werden nach den jüngsten Schätzungen des Schweizer Prognos-Instituts voraussichtlich mehr als 400.000 Berliner in den Brandenburger Speckgürtel ziehen. Die frühere Inselstadt erleidet damit nur das, was in München oder Hamburg schon seit Jahrzehnten Realität ist. Hamburg hat zwischen 1970 und 1987 über ein Zehntel seiner Bevölkerung an Umlandgemeinden in Niedersachsen und Schleswig-Holstein verloren.

Aber nicht nur der weiterhin populäre Traum vom Häuschen im Grünen läßt die Nahraumplaner verzweifeln. Selbst diejenigen, die ihre Residenz nicht ins Umland verlegen, bleiben verkehrlich gesehen, höchst aktiv. Städtische Lebensformen verlaufen ja typischerweise in baulich und kulturell verdichteten Räumen, widersprüchlich, mehrdeutig, abwechslungsreich, aber in jedem Fall auch anstrengend. Es scheint, daß viele gutverdienende Stadtbewohner auch deshalb in der engen, lauten und streßigen Stadt wohnen, weil sie ihre entspannenden Ausweichorte haben. Also die Datsche am See, das Apartment auf Mallorca oder mit Freunden das Ferienhaus in Südfrankreich.

Fluchtpunkte? Man könnte besser von Kontrasträumen sprechen. Stadtbewohner richten sich gleichzeitig im Nah- und Fernraum ein, die Bedeutung lokaler Orte steht somit in keinem konkurrierenden, sondern ergänzenden Verhältnis zur Fernraumorientierung. Wenn sich aber affektive Bezüge zu Lokalitäten nicht als exklusive, sondern als komplementäre Bindungen entwickeln, dann wird dieses Verständnis einer komplementären Urbanität erhebliche Folgen für die Verkehrspolitik haben. Denn es ist anzunehmen, daß auch die Wahl der Verkehrsmittel nicht mehr nur allein nach lokalen Gesichtspunkten erfolgt. Beispielsweise das Fahrrad oder den ÖPNV für die Alltagswege und das Flugzeug für die regelmäßigen Trips nach Mallorca. Oder die Füße für das Leben im Kiez von Montag bis Donnerstag und den großen Volvo für die Wochenendfahrten zum Häuschen am Meer.

Der alltägliche Autoverzicht bleibt ohne Wirkung. Die persönliche Ökobilanz ist in jedem Fall eine Katastrophe. Für die Verkehrsforschung wird es noch komplizierter, verschwimmen die Unterschiede zwischen Haupt-, Neben- und Ferienwohnsitz. Wenn sich die Arbeitsorganisation auflöst, teilweise Telearbeit zunimmt, Sabbatjahre oder Kinderpausen eingelegt werden, wo ist dann zu Hause? Wo hört der Nahraum auf, wo beginnt der Fernraum? Die Antworten können sehr schwanken. Sie sind abhängig von Lebensumständen, Alter, Jahreszeiten, Einkommen. Alle ökonomischen, kulturellen und gesellschaftlichen Megatrends lassen eine weitere Öffnung und Ausdehnung lokaler Räume erkennen. Der Widerstand des Raumes wird abgebaut, grenzenlose Zugänge eröffnet. Moderne Verkehrstechnik, deren Benutzung längst alltäglich geworden ist, lassen ferne Städte zu Vororten werden. Shopping in Manhattan hat seine Exklusivität verloren.

Aber auch im Kleinen herrscht eine Fern- und keine Nahraumorientierung vor: Einkaufsmärkte und Freizeitparks entstehen nach dem Muster von Disneyland auf der grünen Wiese und werben um Kunden aus einem Umkreis von Hunderten von Kilometern. Der Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel resümiert diese Entwicklung so: „Eine Umwertung der Geographie findet statt. Es wird leichter, mit der Bahn in ein 200 bis 400 Kilometer entferntes Zentrum zu gelangen als in eine 40 Kilometer entfernte Kleinstadt. Unterstützt wird die abnehmende Bedeutung der Lokalität durch einen ungebrochenen Sog gesellschaftlicher Differenzierung und Flexibilisierung.“

Im Zuge dieser Entwicklungen zerfallen räumliche Bindungen, Traditionen bröckeln. Diesen Zusammenhang betont der britische Soziologe Anthony Giddens: „Tradition ist stets mit einem Ursprungsort oder mit zentralen Orten verbunden.“ Der Berliner Politologe Guggenberger hat den Begriff der „Zeitgenossenschaft“ geprägt. Nicht mehr der konkrete Ort ist für die Identitätsfindung entscheidend, sondern die in der Mehrzahl medial vermittelten Ereignisse und Erlebnisse einer bestimmten Zeit oder Epoche. Einschnitte wie Krieg oder Nachkrieg, Beatles und 68er-Erlebnisse überlagen als Sozialisationsinstanzen die Erfahrungen vor Ort. Wichtig ist nicht mehr, an einem bestimmten Ort geboren und aufgewachsen zu sein, sondern Teil einer bestimmten Generation zu sein.

Darüber hinaus entwickeln sich globale Zwänge. Nicht örtliche Kontinuität, sondern berufliche Mobilität ist gefordert. Ein Ökonom formulierte gerade als Gastkommentator des Düsseldorfer Handelsblatts, was die gängige Erwartung ist: „Wer gut qualifiziert ist und beruflich oder räumlich mobil ist, kommt flott voran. Unqualifizierte und Unbewegliche verlieren im Strukturwandel.“ Das Dilemma ist offenkundig. Auf der einen Seite steht die politisch korrekte Forderung nach der Stärkung des Nahraumes. Zweifellos muß die Verkehrsbelastung drastisch verringert werden.

Nachhaltig und zukunftsfähig ist der automobilzentrierte Verkehr auch dann nicht, wenn sich in einigen Jahren wider Erwarten das 3-Liter-Auto durchsetzt. Das Platzproblem gerade in Ballungsräumen bleibt und wird sich verschärfen. Der Einsatz moderner Telematik-Systeme kann höchstens schadensbegrenzend wirken. Auf der anderen Seite laufen alle wichtigen Entwicklungen derzeit auf eine zunehmende Fernraumorientierung hinaus. Biographien organisieren sich heute erheblich globaler. Solange die Ausdehnung der Räume auf der politischen Tagesordnung steht, solange Zugänge erweitert und erleichtert werden, dehnen sich auch die Möglichkeitsräume weiter aus. Politikkonzepte einer nachhaltigen Stadt- und Regionalplanung werden damit ins Leere laufen. Eine Konzentration der politischen Maßnahmen auf den lokalen Bereich als zentralem Hebel für eine veränderte Verkehrsmittelwahl kann allein jedenfalls nicht die gewünschte Steuerungswirkung entfalten. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, daß sich die Empfehlungen der Verkehrsforschung an die Stadt- und Regionalplanung zur Realisierung von attraktiven Stadtquartieren, um „Zwangsverkehre“ abzubauen, als regelrechte „Gestaltungsfalle“ entpuppen.

Wenn diese Annahmen stimmen, entfalten urban aufgewertete Räume sogar eine verkehrserzeugende Dynamik. Denn gerade in solchen Quartieren sind die sozialen Schichten überrepräsentiert, die für ein „komplementäres“ Verständnis von Urbanität prädestiniert erscheinen. Die Kiezidylle bleibt, die Mobilität verlagert sich in den Raum. Das heißt mehr Verkehr und nicht weniger.