Lieber mehr Geld als kürzere Arbeitszeiten

■ ÖTV-Chef Herbert Mai droht Niederlage: Große Tarifkommission wird voraussichtlich Arbeitszeitverkürzung ablehnen. Die Basis will mehr Lohn

Hamburg (taz) – Wenn heute die Große Tarifkommission der Gewerkschaft Öffentliche Dienste Transport und Verkehr (ÖTV) in Stuttgart zusammentritt, steht ÖTV-Boß Herbert Mai eine der bittersten Niederlagen seiner Karriere bevor. Aller Voraussicht nach wird sich das Spitzengremium der nach der IG Metall zweitgrößten deutschen Gewerkschaft dagegen aussprechen, den Arbeitszeittarif mit den öffentlichen Arbeitgebern zu kündigen. Damit wäre der Traum des ÖTV-Bosses, mit einer arbeitsmarktpolitischen Debatte in die Tarifrunde des Wahljahres 1998 zu starten, vorzeitig geplatzt.

Insider rechnen damit, daß Mai angesichts der einhelligen Ablehnung einer Arbeitszeitverkürzung durch die ÖTV-Mitglieder die Kündigung der Arbeitszeitregelung gar nicht erst zur Abstimmung stellen wird. Statt dessen dürfte es einen „geordneten Rückzug“ geben. Im Klartext: Die ÖTV wird mit den öffentlichen Arbeitgebern zwar über Möglichkeiten zur Arbeitsplatzsicherung durch Arbeitszeitverkürzung mit Lohnverzicht sprechen, aber kein Druckmittel für einen ernsthaften Tarifabschluß in der Hand haben.

Dabei hatte sich Herbert Mai das ursprünglich ganz anders vorgestellt. Zunächst überraschte er Basis und Funktionäre mit der Entscheidung, der ÖTV die Vorreiterrolle in der Tarifrunde des Wahljahres zuzuweisen. Bereits im Oktober wird mit Bund und Ländern über den Manteltarif gesprochen, der unter anderem die Arbeitszeit regelt. Im Januar geht es dann um Löhne und Gehälter.

Im Frühsommer präsentierte Mai der Öffentlichkeit seinen Vorschlag „bei einer Arbeitszeitverkürzung auf den vollen Lohnausgleich zu verzichten, wenn neue Stellen geschaffen“ werden. In der Juniausgabe des ÖTV-Funktionärsblattes Argumente folgten die „Leitgedanken des Vorsitzenden“. Er wollte eine „tarifpolitische Offensive“, welche sicherstellt, daß die vereinbarten Wochenarbeitszeitverkürzungen „auf der betrieblichen Ebene in Beschäftigung umgesetzt werden“. Als Antwort auf die traumatische Erfahrung der Tarifrunde 1987/88, als die öffentlichen Arbeitgeber sich zwar auf Arbeitszeitverkürzung einließen, aber anschließend kaum Arbeitsplätze schufen, wollte Mai diesmal eine Pflicht zur Arbeitsplatzschaffung gegen Lohnverzicht und Arbeitszeitverzicht tarifvertraglich festschreiben. Um die Flexibilität zu erhöhen, war er auch bereit, betriebliche Öffnungsklauseln für Arbeitszeiten tarifvertraglich zu vereinbaren.

Obwohl Mai mit diesen Konzepten durch die Lande tingelte, biß er bei Funktionären und Basis auf Granit. „Wen meinst du eigentlich, wenn du von ,wir‘ redest?“ meinte ein Rendsburger ÖTV- Mitglied beispielsweise kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung zu Mai. „Ohne die Basis, die Arbeiter, die einen solchen Tarifabschluß erstreiken müßten, und das heißt die Busfahrer und Müllwerker, können wir nicht in die Arbeitszeitdebatte einsteigen“, so das Fazit einer Stuttgarter Funktionärin. Florian Marten