■ Der Parteitag der chinesischen Kommunisten verlief ohne Anteilnahme der Massen. Diese glauben nicht mehr an sie
: Das Volk geht auf Distanz

Sieben Tage lang die gleichen Schlagzeilen in allen Zeitungen, sieben Tage die gleichen Parteigesichter auf allen Fernsehkanälen: das war – von außen gesehen – der 15. Parteitag der chinesischen Kommunisten, der gestern in Peking zu Ende ging.

Im Westen mochte bei manchem der Eindruck entstehen, China lasse sich immer noch unicolor in den Parteifarben malen. Die Wirklichkeit sah anders aus: Peking zu Parteitagszeiten war keine gleichgeschaltete Stadt mehr. Die Zivilgesellschaft, wo sie existiert, ließ sich von der Parteipropaganda nicht mehr einschüchtern. Ungestört ging das Leben in den Künstler- und Intellektuellenvierteln der Hauptstadt weiter. Noch auffälliger ging die freie Wirtschaft auf Distanz zum Parteigeschehen: Wo man nachfragte, hatten Unternehmer und Manager die programmatische Rede von Partei- und Staatschef Jiang Zemin weder gelesen noch gehört. Man entschuldigte sich damit, daß es auf dem Parteitag um die Reform der Staatsbetriebe ginge – um jenen Teil der Wirtschaft, der ohnehin niemanden mehr interessiere.

Die Mehrheit der Chinesen in Stadt und Land hat den Eindruck, daß der Einfluß der Partei auf ihr eigenes Leben abnimmt oder schon gar nicht mehr vorhanden ist. Das mag verständlich sein – wie wenig hat doch der alltägliche Überlebenskampf in der „sozialistischen Marktwirtschaft“ noch mit kommunistischen Idealen zu tun. Und aus dem Dorfleben hat sich die Partei ohnehin zurückgezogen – sie gestattet dort eine kommunale Demokratie, die sie nun mit einem neuen Parteitagsbeschluß auf Gemeinden bis zu einer Größe von 100.000 Einwohnern ausweiten will.

Die chinesische Befindlichkeit rund um den Parteitag entspricht so gar nicht dem Chinabild in Deutschland: das Schicksal der inhaftierten Dissidenten, die andauernde religiöse Unterdrückung in Tibet, die Vollstreckung von annähernd 4.000 Todesurteilen im vergangenen Jahr – das alles vermittelt die Vorstellung eines unerbittlichen Überwachungsstaates, der die Bevölkerung bis in die hinterste Landesecke terrorisiert.

In Deutschland muß man differenzieren lernen: zwischen den berechtigten und politisch notwendigen Vorwürfen gegen die Verletzung von Menschenrechten in China und dem Bild, das man sich selbst von dem Riesenreich macht. Längst ist China keine maoistische Enklave mehr, wo jeder den gleichen Unsinn redet. Längst finden sich zu jedem Thema offene Gesprächspartner. Sogar der Gefängniskritiker Michel Foucault wurde hier unlängst auf chinesisch übersetzt und publiziert.

Die neue intellektuelle Offenheit schließt jedoch nicht aus, daß das jetzt von vielen gespürte Mehr an Demokratie, Marktwirtschaft und sozialen Freiheiten zu gefährlichen Illusionen verleitet. Daß nämlich die Partei nicht mehr regiere, wie die Überschwenglichen behaupten, davon kann keine Rede sein. Neues Freiheitsbewußtsein und politische Naivität liegen in China immer noch nah beieinander und bereiten auch dem Westen ein Problem. Weil nämlich die Andersdenkenden wegschauen und die Partei weiterhin im Gleichschritt marschiert, bleibt die politische Interpretation des Parteitages dem Ausland überlassen. Kein ungefährliches Unterfangen angesichts der zahlreichen katastrophalen Fehleinschätzungen Chinas in diesem Jahrhundert. Viele im Westen sehen China an einem Scheideweg: vor der Wahl zwischen Marktwirtschaft und Demokratisierung oder einer verzweifelten Hinwendung zum Nationalismus. Doch hat der Parteitag hier nicht viel Aufklärung darüber geleistet, welchen der beiden Wege die gegenwärtige Führung in Zukunft gehen will. Das Ersetzen der Internationale durch die Nationalhymne zu Kongreßbeginn kann zur Begründung eines neuen Nationalismus nicht reichen. Schon eher deutet die fortwährende Huldigung Mao Tse-tungs und Deng Xiaopings auf ein verblendetes, nationalistisches Geschichtsbild, das Fehler wie Maos „Großen Sprung nach vorn“ und Dengs Panzereinsatz auf dem Tiananmenplatz nicht einräumt. Andererseits gab es auf dem Parteitag in diesem Punkt auch Fortschritte: Der offene Brief des ehemaligen KP-Generalskretärs Zhao Ziyang, der eine Neubewertung der Demokratiebewegung von 1989 forderte, deutete auf die Unterschiede im Geschichtsbild der Kommunisten.

Ähnlich verschwommen bleibt das Bild von den zukünftigen Wirtschaftsreformen. Man könnte nach 1949 und 1978 von einer dritten Revolution der chinesischen Wirtschaftspolitik sprechen, wenn Jiang Zemins Sanktionierung neuer Eigentumsformen wie Aktiengesellschaften tatsächlich den Ausverkauf des betrieblichen Staatsvermögens nach sich ziehen würde. Hier öffnete sich gar die Vision eines demokratischen Sozialismus, wenn mit der Einführung eines genossenschaftlichen Aktiensystems der Großteil des Staatsbesitzes an die Arbeiter verteilt würde. Doch wer mag Jiangs Versprechen von der „freien Assoziation der Arbeiter für die Kapitalbildung“ im Sinne des Wortes Bedeutung schenken?

Eher sieht es in der Praxis danach aus, daß gutlaufende Unternehmen im Staatsbesitz bleiben, restrukturierbare teuer verkauft werden und nur die hoffnungslosen Fälle der Belegschaft übergeben werden. Die Eigentumsfrage wäre damit alles andere als geklärt und würde die Investitionsbedingungen auch in Zukunft schwer belasten. Doch nur neue Investitionen in den zu privatisierenden Staatssektor können die drohende Finanzkrise verhindern. Schon heute belasten faule Kredite des Staatssektors in Höhe von annähernd tausend Milliarden Mark das marode Bankwesen.

Aus makroökonomischer Perspektive aber sind die wirtschaftlichen Probleme bezwingbar. Der chinesische Staat ist derzeit mit nur sechs Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) verschuldet. Übernimmt er die faulen Kredite und rekapitalisiert das Bankwesen, beliefe sich die Schuldenlast auf 40 Prozent des BSP, 20 Prozent weniger als in Deutschland – bei Wachstumsaussichten von 10 Prozent lediglich eine Frage professioneller Führung.

Die im Grunde guten wirtschaftlichen Aussichten mögen letztlich der Grund sein, weshalb so viele Chinesen sich für den Parteitag nicht interessiert haben und die Kommunisten-Show nahezu ohne Störung verlief. Das verheißt nichts Gutes: China braucht weitere Reformen, allen voran die Eigentumsreform. Sie werden aber nur gelingen, wenn das Volk wie bisher auf Reformen drängt. Davon war während des Parteitags nichts zu spüren. Georg Blume