Kabale und Kriege

Heinrich von Kleist erfand mit den „Berliner Abendblättern“ den aktuellen Lokaljournalismus. In der Brandenburger Kleist-Ausgabe läßt sich sein redaktionelles Wirken nun erstmals vollständig überblicken  ■ Von Jürgen Berger

Anfang Oktober 1810 war in Berlin nicht viel los, sieht man einmal davon ab, daß eine mysteriöse Mordbrennerbande ihr Unwesen trieb. Was sich da täglich abspielte, konnte man in den Berliner Abendblättern nachlesen, die sich am 5. des Monats etwas Merkwürdiges leisteten. An der Stelle, wo heute der Leitartikel stünde, konnte man eine „Ode auf den Wiedereinzug des Königs im Winter 1809“ lesen. Gezeichnet mit H.V.K.

Sollte das tatsächlich eine Siegesode sein? Merkwürdig. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war doch bei Jena und Auerstedt von Napoleon vernichtend geschlagen worden und Preußen seither ein Vasallenregime Frankreichs. Das Ganze war also wohl eher ein Spottgedicht auf den gestrandeten Souverän, hinter dem der einzige Redakteur des Blattes steckte: Heinrich von Kleist.

Ein umtriebiger Bursche, der nicht nur Anfang des Monats die erste Berliner Tageszeitung gegründet hatte, sondern auch ein Aktualitätsfetischist war und ohne Probleme dem Sensationsjournalismus frönte. Die wenigsten der Leser allerdings wußten, wer das war und daß er gerade „Das Käthchen von Heilbronn“ geschrieben hatte. In Berlin konnte man das Stück zu diesem Zeitpunkt nicht sehen, der Direktor des Nationaltheaters, August Wilhelm Iffland, Schauspieler und selbst Verfasser von über sechzig Stücken, hatte die Nase gerümpft. Rache ist süß, mag Kleist sich gedacht haben, und revanchierte sich mit vernichtenden Theaterkritiken. An besagtem 5.Oktober besprach er die Premiere einer Posse: Ein „Nichts“ sei das Ganze gewesen.

Eine Theaterkritik als Teil einer hauptstädtischen Theaterkabale, in deren Verlauf Kleist lancierte, die Kritiker des Berliner Medienriesen Vossische Zeitung ließen sich von der Direktion des Nationaltheaters bestechen. Kleist heizte an und war nicht unmaßgeblich daran beteiligt, daß eine der nächsten Premieren lautstark gestört wurde. Preußens reformerischer Staatskanzler Fürst von Hardenberg ordnete eine Untersuchung an; die Berliner Abendblätter, in den ersten Wochen ein Kassenschlager, begannen sehr schnell zu kränkeln.

Die letzte Nummer erschien am 30. März 1811. Kleists redaktionelle Notiz am Ende einer eher müden Ausgabe, in der er lediglich Kriegsberichte nachgedruckt hatte: „Gründe, die hier nicht angegeben werden können, bestimmen mich, das Abendblatt mit dieser Nummer zu schließen.“ Die Gründe allerdings lagen auf der Hand. Zum einen hatte Kleist den Zeitaufwand für die redaktionelle Arbeit unterschätzt. Dann machte ihm die Zensur sehr stark zu schaffen und raubte ihm nach und nach seine Themen, so daß die Zeitung uninteressant wurde. Und dann protestierte auch die Vossische gegen die Vorzugsbehandlung der Berliner Abendblätter durch Berlins Polizeichef Justus Gruner.

Von ihm bekam Kleist abends beim Bier die Polizeiberichte des Tages. Schon damals ließen sich Brandschatzung, Mord, Diebstahl und Betrug gut verkaufen. Kleist wählte aus, strich die Berichte auf das Wesentliche zusammen und erfand so ganz nebenbei den aktuellen Lokaljournalismus. So etwas gab es bis dahin nicht, die Vossische etwa erschien alle drei Tage und reagierte längst nicht so schnell. Den Knüller dieser Tage konnte Heinrich von Kleist exklusiv vermarkten: die Mordbrennerbande. Doch derselbe Polizeipräsident, der ihm die Polizeiberichte zuschob, ließ die Bande zum Leidwesen des Redakteurs rasch verhaften.

Was blieb, waren Meldungen von Delikten wie am 29. November, als „zweien Schlächtern und einem Seifensieder Waagschalen in Beschlag genommen“ wurden. Bezeichnend, daß Kleist während seiner sechsmonatigen Redakteurstätigkeit sehr oft Betrugsdelikte mit manipulierten Gewichten aus den Polizeiberichten auswählte. Liest man heute die zum ersten Mal vollständig herausgegebenen Berliner Abendblätter, kann man ein äußerst seltsames Autor/ Redakteur-Zwitterwesen kennenlernen, das zwar selbst manipulierte und intrigierte, in seiner Zeitung aber einen kleinen Privatkrieg gegen betrügerische Bäcker führte, während er in Erzählungen und Theaterstücken preußische Tugenden wie Ehre und Wahrhaftigkeit auf der feinen Waage der Empfindung abstürzen ließ.

Mit umfangreichem Hintergrundmaterial versehen, erscheinen die Berliner Abendblätter in diesen Tagen als Teil der Brandenburger Kleist-Ausgabe, mit der die Herausgeber, Roland Reuß und Peter Staengle, schon seit einiger Zeit für Aufregung in der verschlafenen universitären Gelehrtenwelt sorgen. Die verspricht schon seit Jahrzehnten eine sorgfältig edierte Klassikerausgabe, hat bisher aber nur Subventionsgelder eingestrichen. Reuß und Staengle verfahren auch im Falle der zweibändigen, nahezu 900 Seiten umfassenden Ausgabe wie gehabt und legen großen Wert auf Transparenz. Beigelegt ist ein 400 Seiten starkes Beiheft, in dem sich zum Beispiel eine Chronik der laufenden Ereignisse findet. Und es gibt eine CD- ROM, auf der zum ersten Mal alles verfügbare Quellenmaterial zugänglich gemacht wird.

Die Berliner Abendblätter sind zwar ein Konglomerat aus erstmals veröffentlichten Kleistschen Originaltexten wie der Erzählung „Das Bettelweib von Locarno“ und dem Aufsatz „Über das Marionettentheater“, aus Essays anderer Autoren wie Achim von Arnims und Clemens Brentanos berühmtem Aufsatz über Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“, aus Übernahmen aus anderen Zeitungen und Zeitschriften sowie den Extrakten aus den Polizeiberichten. Trotzdem, so die Herausgeber, sollten die Abendblätter als eigenständiges „Werk“ behandelt und nicht wie in früheren Ausgaben nur auszugsweise ediert werden. Reuß und Staengle argumentieren, „daß es keinen Sinn hat, aus dem Ensemble von Texten (...) einzelne Teile zu isolieren und ihres Kontextes zu berauben. Nur ein vollständiger, kritisch durchgesehener Neudruck der gesamten Abendblätter läßt begreifen, wie Kleist das Verhältnis der einzelnen Teile einer Lieferung und das der Lieferungen untereinander gewichtet wissen wollte.“ Eine These, für deren Richtigkeit sich Beispiele finden lassen. Zur Gründung der Berliner Universität im Jahr 1810 etwa hebt Kleist Anfang Oktober einen auf mehrere Tage verteilten Essay ins Blatt. Adam Müller, Privatgelehrter und mit Heinrich von Kleist Herausgeber des Kunstjournals Phöbus, räsoniert, ob eine Universität den Zusammenhalt des preußischen Staates fördern kann. Die Berliner Abendblätter versuchen direkt ins kulturpolitische Geschehen einzugreifen.

Ende Oktober dann meldet Kleist sich selbst mit einer Essayfolge unter dem Titel „Allerneuester Erziehungsplan“ zu Wort, in dem er mit Beispielen aus der Elektrizität und der Geschlechterbeziehung dem Phänomen der Anziehung und Abstoßung von Gegensätzen nachspürt. Auch dem Redakteur Kleist geht es um Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines harmonischen Gemeinwesens. Daß er über längere Strecken solche Fragen in seiner Zeitung diskutierte, wird nur im Zusammenhang deutlich.

Auf der CD-ROM übrigens kann man die einzelnen Teile der Essays per Mausklick zusammenrücken. Mit zum Service gehören: alle Berliner Polizeiberichte aus der Zeit, die Programmzettel des Nationaltheaters und alle von Kleist verwendeten Zeitungen und Zeitschriften sowie behördlichen Schriftsätze zur Zensur. Am Rande sind Verweisstellen aufgelistet, per Mausklick landet man im Fortsetzungsteil eines Essays oder im Quellenmaterial.

Anhand der Programmzettel läßt sich nachvollziehen, daß Kleist zwar den lokalen Kulturzampano spielte, aber Ifflands eher seichten Spielplan wohl zu Recht attackierte. Und man sieht, daß er manchmal sehr geschickt die Zensur unterlief, um den Berlinern durch die raffinierte Kombination unterschiedlicher Meldungen Informationen zukommen zu lassen, die sie von keiner anderen Zeitung bekamen.

Am 3. November übernahm er zwei Nachrichten, in denen es um den gleichen Vorgang ging, die aber unterschiedlicher nicht sein konnten. Unter der Rubrik „Miscellen“ steht, daß in Napoleons Verlautbarungsorgan Le Moniteur Universel über die „glücklichen Fortschritte der französischen Truppen in Portugal“ berichtet wird. Darüber plaziert ist eine Meldung der Zeitung Gemeinnützige Schweizerische Nachrichten, wonach genau dieselben Truppen „mit ansehnlichem Verlust zurückgedrängt worden sind“. Wie aktuell und brisant Kleists Abendblätter waren, sieht man daran, daß der französische Gesandte noch am selben Abend beim preußischen Außenminister vorstellig wurde, um sich zu beschweren.

Heinrich von Kleist: „Berliner Abendblätter 1 & 2. Brandenburger Kleist Ausgabe“. II/7&8 inklusive Kleist Blätter und CD-ROM. Gebunden 1.244 Seiten. CD-ROM circa 2.000 Seiten, 238 DM. Subskriptionspreis 198 DM