Das Ende der Unschuld

Gesichter der Großstadt: Helmut Lehnert, Chef des neuen Radio Eins, gilt als genialer Radiokopf. Doch für sein neues Programm bezog er Prügel  ■ Von Lutz Meier

Es waren die Geschichten, sagt Helmut Lehnert, und es sind immer noch die Geschichten. Man kann das spüren, wenn Lehnert ansetzt, die Geschichte zu erzählen, wenn man Lehnert gefragt hat, warum es das Radio ist, das den Chefredakteur des neuen ORB/ SFB-„Radio Eins“ fasziniert. Dann scheint hier der Platz auf der Bank des schnieken Café Einstein, auf der er erst ganz nach hinten und dann ganz an die Kante rückt, den Oberkörper nach vorn gelegt, die Arme auf dem Tisch verschränkt, wo er sein Glas zur Seite stellt und das Besteck wegräumt, als bräuchte er den Raum für die Geschichte, dann also scheint Lehnerts Platz nicht mehr der Platz auf dem zerschlissenen Kaffeehaus- Samt zu sein.

Er ist auf dem Bett ganz oben im elterlichen Hotel, irgendwann Anfang der sechziger Jahre im Hessischen. Dort, wo der 11jährige unter seiner Decke liegt und atemlos Radio hört, Radio Luxemburg, das ohnehin den Hautgout des Kühnen und Unzulässigen hat. Dann stellt man sich vor, wie den kleinen Helmut Lehnert, den Jungen, der meistens nur mit sich selbst redet, der Wunsch ergreift, auch aus diesem Kasten zu reden, zu erzählen und zu erzählen. Wie er dann mit 16 zusammen mit der Schulklasse den Hessischen Rundfunk besucht und sein Idol sieht, „meinen DJ“, wie Lehnert heute noch sagt, ein kleiner Schock für den Jungen: ein Fettsack („aber nett“).

Dann kommt noch so eine schöne Geschichte: Wie der 16jährige in einer örtlichen Disco jedes Wochenende Platten auflegt und zur Polizeistunde zum Hinterausgang rauskommt, und wenn die Beamten wieder weg sind, wieder hineingeht, und erst am Morgen durch das Hotelfenster ins Bett steigt. „Das hat mich dann erst mal mein Abitur gekostet“, sagt Lehnert und lächelt.

Es ist seltsam, falls in diesem Lächeln Melancholie ist: Seltsam ist, wie der Mann, dessen verschmitzter Gesichtsausdruck immer noch Jungenübermut ausstrahlt, obwohl Lehnert seine 47 Jahre nicht versteckt, wie er all diese Dinge erzählt. Wo doch die ganzen Träume, die darin sind, jetzt sehr weit weg sind.

Jetzt besucht Lehnert Managementkurse, weil er meint, das ist nötig in so einem Laden. Jetzt ist die Veränderung des öffentlich- rechtlichen Rundfunks von innen sein Ziel, des Rundfunksystems, das Lehnert für eine große Sache, aber für äußerst gefährdet hält. Jetzt muß er eine widerstreitende, widerstrebende Redaktion zusammenbringen, muß Erfolg haben, muß Hörer beruhigen – und die Vorgesetzten. Muß erklären, daß sein „Radio Eins“ vielleicht einen Fehlstart hingelegt hat, was aber auch kein Wunder ist bei sechs Wochen Vorbereitung, kein Wunder bei diesen Bedingungen, aber wen interessiert das? Jetzt muß, will Lehnert allen zeigen, daß es trotzdem ein richtiges, ein kühnes Projekt war, ein intelligentes erwachsenes Metropolenradio aufzumachen. Und was das Schwerste ist: Jetzt muß Lehnert sich selbst jeden Tag beweisen, daß es richtig war, „Fritz“ dafür zu verlassen, seinen letzten Traum und Erfolg.

Verprügelt fühlt Lehnert sich jetzt von der Kritik nach dem Start, und mißverstanden. Ja, sagt Lehnert, „Radio Eins“ sei vielleicht fehlgestartet, aber nun werde das Programm täglich besser und man müsse diesem Ding einfach eine Chance geben. Und dann komme zu dem ganzen Anfang noch die Tragik, „daß du offenbar erst einmal etwas zerstören mußt, um etwas Neues aufzubauen“. Daß er sich nun auch dafür verprügeln lassen muß, daß es „Radio Brandenburg“ nicht mehr gibt, das zuvor auf der „Radio Eins“-Frequenz sendete. Oder daß es auf „Radio Eins“ auch ein bißchen Werbung gibt, was soll man dazu sagen?

Man muß wissen, daß der Mann, der da sitzt und zu erklären sucht und sich Selbstzweifel gestattet und Kritik nicht abprallen läßt, daß dieser Mann sehr vielen als der intelligenteste Radiokopf der ARD gilt. Daß man auch bei manchen Privatsendern neidisch auf seine Ideen ist. Lehnert hat, als er „Fritz“ erfand, für den öffentlich- rechtlichen Rundfunk tatsächlich etwas wie eine kleine Revolution geschaffen, und im brutalen Berliner Radioangebot eine Offenbarung: Er hat ein Jugendprogramm gemacht, das hip, aber nicht doof war. Er hat so planvoll vermeintliche Radioregeln geschleift und kalkulierten Eigensinn dagegengesetzt und hat sich dafür lange für verrückt erklären lassen – bis „Fritz“ zum Erfolg wurde, zum bundesweiten Aushängeschild des ORB. Das ist es, was Lehnert heute ein wenig beruhigt, da auch „Fritz“ damals anfing wie „Radio Eins“ heute, mit Ost-West-Streit und planloser Senderpolitik und Knirschen im Äther. Immerhin ist „Radio Eins“ nach „Radio 4 U“, dem SFB-Jugendprogramm, das nur einen Sommer tanzte, und nach „Fritz“ schon das dritte Projekt, das man den einstigen „sf- beat“-Mann konzipieren läßt. Und das ist ja nun ziemlich viel.

Doch manchmal denkt Lehnert, daß vielleicht einfach auch die Zeiten andere geworden sind, so oft sagt er: „Ich habe gelernt“ oder „ich habe erfahren müssen“. Und vielleicht, überlegt Helmut Lehnert, habe er auch zuviel von seiner Naivität verloren, die es ihm erst möglich machte, neue Radioideen zu erspüren.

Man stelle sich also einen Romantiker vor, der mit dem Hund durch den Volkspark spaziert und Selbstgespräche führt. Der neuerdings wieder selbst moderiert, eine sonntägliche Folkrocksendung, die auch noch „Lost in Music“ heißt. Er wollte mal Schauspieler werden, merkte aber rasch, daß er dafür nichts taugt. Aber wenn man so viel gemacht hat und einem so etwas nicht peinlich ist, Selbstgespräche im Park – auch nicht schlecht.