Was wußte das israelische Kabinett?

Angeblich war die Regierung von der jüngsten Hausbesetzung radikaler Siedler informiert. Jetzt wird über bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Palästinensern spekuliert  ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen

„Ich weiß“, sagte Glücksspieler Irving Moskowitz beim Besuch der besetzten Häuser in Ras al-Amud im arabischen Ost-Jerusalem, „wir sind hier mit dem Einverständnis von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.“ Vieles deutet heute darauf hin, daß er recht hatte. Nach Presseberichten war das israelische Kabinett bereits zehn Tage vorab von der Absicht Moskowitz' informiert worden, die Siedler nach Ras al-Amud zu bringen. Infrastrukturminister Ariel Scharon soll den Berichten zufolge eine solche Besetzung als Antwort auf den Anschlag in der Ben-Jehuda-Fußgängerzone im Kabinett zur Sprache gebracht und ausdrücklich befürwortet haben.

Noch vor der „Lösung der Krise“ gab die herzliche Umarmung zwischen Sicherheitsminister Avigdor Kahalani und Moskowitz dem Verdacht neue Nahrung, daß die Besetzung der Häuser nicht ohne Einverständnis des israelischen Kabinetts vonstatten gegangen sein kann. Kahalani, offiziell beauftragt, einen „Kompromiß“ auszuhandeln, hatte eine gewaltsame Räumung der Siedler von vornherein ausgeschlossen. Und es war Kahalani, der Moskowitz, US-Staatsbürger und Finanzier radikaler Siedlergruppen, zum offiziellen Unterhändler mit der Regierung machte.

Das einzige Problem für Israels Regierung war die offensichtliche Brüskierung von US-Außenministerin Madeleine Albright, die bei Abschluß ihres Besuches, nur drei Tage vor der Besetzung, Israel ermahnt hatte, „einseitige Schritte“ zu unterlassen, die das Mißtrauen zwischen Palästinensern und Israelis vertiefen könnten. Und so zog die Regierung die Show ab, die sie der Weltöffentlichkeit als „Kompromiß“ verkaufte. Der Generalstaatsanwalt durfte prüfen, ob eine Räumung aus „Sicherheitsgründen“ oder wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ möglich sei. Netanjahu sprach sich öffentlich entschieden gegen eine Präsenz der Siedler aus und genehmigte sie dann doch. Und die Siedler feierten den „Kompromiß“ als Sieg. Es sei völlig egal, ob Familien oder Yeshiva-Studenten die jüdische Präsenz repräsentierten, erklärte ihr Sprecher.

Das Muster dieses „Kompromisses“ folgt in der Tat früheren. Im Oktober 1991 besetzten Siedler mehrere Häuser in Silwan, dem Nachbarviertel von Ras al-Amud. Auch damals gab es gewaltsame Proteste der Palästinenser, Demonstrationen von Peace Now, Erwägungen des Generalstaatsanwalts. Schließlich entschied das Oberste Israelische Gericht auf vorläufige Evakuierung der Siedler. Das Ergebnis heute: Statt der ursprünglich 12 leben nun 20 Siedlerfamilien in Silwan, der Stadt König Davids.

Ähnlich verlief die Besetzung des Sankt-Johannes-Hospizes in der Altstadt von Jerusalem ein Jahr zuvor. Am Aschermittwoch 1990 besetzten 150 Siedler das Hospiz im muslimischen Viertel, es gab die üblichen Proteste, eine Verurteilung in der UNO, ein Beschluß des Obersten Gerichts und schließlich die Räumung. Nur „Wachen“ durften in dem Gebäude zurückbleiben. Diese „Wachen“ heirateten, bekamen Kinder, und heute leben zehn Familien in dem Gebäude, das jetzt den Namen Neot David trägt.

Es sind diese Siedlungen, die Landenteignungen, die Häusersprengungen, der Entzug der Aufenthaltserlaubnis für Jerusalem, die die Palästinenser in die Verzweiflung treiben. All diese Maßnahmen geschehen nach israelischem Recht völlig legal und mit Zustimmung der Regierung. Sie ziehen der Parole „Land gegen Frieden“ fast buchstäblich den Boden unter den Füßen weg und bereiten den Weg für die Selbstmordattentäter der Hamas.

Es ist keineswegs so, als ob dies von der Regierung oder der israelischen Öffentlichkeit ignoriert würde. Im Gegenteil. Seit Wochen treiben die Spekulationen um eine „bewaffnete Intifada“ der Palästinenser und mögliche israelische Gegenmaßnahmen immer neue Blüten. Die Armee hat einen Plan ausgearbeitet, um die autonomen Gebiete in wenigen Tagen wieder zu besetzen. Man rechnet mit 200 getöteten israelischen Soldaten, mindestens 2.000 toten Palästinensern und einem hohen Ausmaß an Zerstörungen. Israelische Friedensaktivisten setzen die Zahlen sogar zehnmal höher an. Auch die internationale politische Isolierung und Verurteilung Israels als Folge eines solchen Schrittes werden offen diskutiert.

Eine politische Alternativlösung zu den Oslo-Vereinbarungen hat die israelische Regierung bislang nicht angeboten. Angesichts der Dauerkrise werden allerdings die Stimmen lauter, die eine „Regierung der nationalen Einheit“ aus Likud und Arbeitspartei fordern. Erstmals hat Parteichef Ehud Barak sich in der vergangenen Woche zu derartigen Gesprächen bereit erklärt.

Im Nahen Osten sind die Spekulationen über bewaffnete Auseinandersetzungen jetzt an die Stelle von Friedensgesprächen getreten.