"Experiment bedeutet immer Reduktion"

■ Wie widerspenstig war Catherine Davids documenta? Ein Gespräch mit Chris Dercon, Direktor des Rotterdamer Museums Boijmans van Beuningen, über Antiintellektualismus und die Generationskonflikte innerh

taz: Herr Dercon, welches Bild haben Sie von der dX?

Chris Dercon: Das erste Bild, das ich davon hatte, war ein Non- Bild. Ich konnte nicht zur Eröffnung gehen, also war das erste Bild, das ich von der dX bekommen habe, das Pressebild, das mich persönlich ziemlich aufgeregt hat, insbesondere die Berichte der niederländischen Presse. Man konnte drei Sachen spüren: erstens, daß es in der Kunstszene immer mehr eine antiintellektualistische Haltung gibt; zweitens, daß es in der Kunstkritik doch eine Nostalgie für die 80er Jahre gibt. Das ist natürlich interessant, weil Catherine David mit diesem Wechsel von den 70er auf die 80er Jahre spielt.

Drittens kann man über Europa und eine Globalisierung von Ideen eigentlich nicht sprechen, solange man immer noch über das „französische Denken“, die „französische Haltung“, die „französischen Beziehungen“ redet. Ich halte dieses Denken vielmehr für ein persönliches und ein europäisches Denken.

Diese Art von Ressentiments gibt es nicht nur in den Niederlanden...

Für mich ist es absolut typisch niederländisch, genauso wie Rem Koolhaas mehr als Anthropologe oder Soziologe denn als Architekt rezipiert wird und mit seiner Arbeit immer Schwierigkeiten gehabt hat in Holland. Typisch ist dieser Antiintellektualismus aber auch für die Bildende-Kunst-Szene und für den Zweifel, der sich breitmacht bei Kuratoren und Museumsdirektoren. Die dX spricht außerdem die Generationsfrage und einen Generationskonflikt an. So sind z.B. junge Ausstellungsmacher und Museumsleute, die ich gesprochen habe, oft sehr begeistert über die dX. Das bleibende Urteil kommt auf jeden Fall von der nächsten Generation.

Wir wissen im Moment nicht mehr genau, was wir überhaupt annehmen sollen von der bildenden Kunst. Was sind überhaupt die starken Positionen? Man kann heute nicht mehr zu den Künstlern zurück und sagen, es gelten diese und jene Positionen von bestimmten Künstlern aus diesem oder jenem Land. Wenn ich z.B. etwas in der Presse lese über interessante neue Entwicklungen der jungen Kunst in England, dann ist das für mich eher ein anekdotisch gebildetes Pressebild als die Realität.

Wo sehen Sie Ursachen dafür, daß eine ganze Reihe von Leuten aus dem Kunstbetrieb sich angesichts dieser Unsicherheiten in eine Art neuen Sensualismus flüchten?

Weil wir alle in den letzten drei bis vier Jahren konstatieren mußten, daß es die alte Dichotomie zwischen autonomer und nichtautonomer Kunst, zwischen effektiver, apparativer und dokumentarischer Kunst nicht mehr gibt. Es ist vielleicht eine Schwäche dieser documenta, daß Catherine David die andere, ältere Generation, die mit dieser Verunsicherung lebt, bei der Hand hätte nehmen können, wenn sie sich mehr auf die Ausgangspunkte dieses Denkens konzentriert hätte. So fehlen für mich wichtige Künstlerpositionen, die eigentlich zu dieser documenta gehören: On Kawara oder Lawrence Weiner zum Beispiel, aber auch jüngere Leute wie Luc Tuymans.

Im Unterschied zur documenta 5 ist dies eine kühle documenta, gedacht aus der Perspektive der Rezeption der bildenden Kunst und nicht aus der der bildenden Kunst selbst. Die documenta 5 war „hot“, weil die Macht, die Kreativität, eindeutig bei den Künstlern war. Szeemann konnte näher an den Künstlern sein als David. Ich sage nicht, daß das heute noch geht.

Catherine David wird aber gerade vorgeworfen, daß sie Themen behandelt, die heute keine Bedeutung mehr haben. Was ist an dem Vorwurf „alles alter Käse!“ dran?

Heute hat man eigentlich vergessen, was Ende der 70er Jahre passiert ist. Wir erkennen immer noch nicht, daß es Closed circuit communications, Tele-communication-art, Fax-art, all diese Sachen mit den Neuen Medien schon Ende der 70er Jahre gegeben hat. Die Informationsfähigkeit der Kunst war die Ruine aus den Erfahrungen der 60er und Anfang der 70er Jahre. Koolhaas hat mit all seinen Ideen um 1978 begonnen, ebenso Mike Kelley mit seiner Garage-art, die Video- und Filmarbeiten von Wulf Herzogenrath auf der documenta 6 – alles war 1978. Das sind wichtige Realerfahrungen meiner Generation. Sie gehört nicht zu der von König und Ammann und auch nicht zu der von Hans-Ulrich Obrist, die ich im übrigen alle drei sehr respektiere. Wir sind dazwischen.

Diese documenta hat mich wirklich stimuliert und auch emotional motiviert, ich habe mich absolut erkannt in dieser documenta. Catherine David ermöglicht eine neue Erfahrung von Ausstellung, die mit Programmierung zu tun hat. Ich meine, die Presse hat auch nicht erkannt, daß der Ton dabei eine sehr wichtige Rolle spielt.

Hat Catherine David mit dieser documenta neue Perspektiven der Ausstellungsinszenierung eröffnet?

Die Perspektiven sind nicht so neu. Neu ist die Frage, ob Museumsleute etwas damit machen wollen und können, d.h., ob man die Programmierung des Museums und seine Dramaturgie verändern kann. Ich habe da keine Hoffnung, was die alte Generation betrifft. Wenn ich mir die Erfahrungen dieses Sommers von Münster über Lyon bis Venedig ansehe, dann denke ich, das ist vorbei! Dort gibt es nichts, worüber man diskursiv nachdenken kann, was auf eine Realerfahrung hinweist. Das geht nicht mehr. In diesem Sinn müssen wir uns ganz neu orientieren.

Sie vermissen in Kassel also nicht die großen, „erhabenen“ Werke?

Aber bitte, es geht doch heute sehr viel mehr Energie von einem kleinen Büchlein über Beckett von Gilles Deleuze aus als von diesen riesigen Bildern, die noch immer gemalt werden. Es geht auch mehr Energie aus von diesen kleinen Bildern von Luc Tuymans als von der sogenannten Kounellis-Erfahrung. Jetzt entdeckt man, daß die Bechers eigentlich viel interessanter sind. Und was auch interessant ist: Hans Haackes Arbeit über „Real Estate“ war für uns damals noch rein propagandistische, politische Kunst. Nun kann man erst die ästhetische, emotionale Erfahrung darin sehen und es als reine Fotografie erkennen.

Und was hat hat Ihnen bei der dX besonders gefallen?

Das war das Bild des leeren Platzes vor dem Fridericianum. Wunderbar! Wie Catherine David die Architekturgeschichte und die Geschichte von Kassel erzählt, das ist für mich sehr prägnant. Der leere Platz, das ist für mich eine Kombination von Botho Strauß und Thomas Bernhard, das ist Theater, da braucht man die Kunst nicht für. Dann berühren mich Arbeiten wie der „Bookshop“ von Vito Acconci für Walther König; oder die Garage-art von Mike Kelly und Tony Oursler, die Kombination von Jean-Luc Godard und Dan Graham oder der Raum von Richard Hamilton.

Interessant finde ich generell die Betonung des Zeitraums 1975–1980 und daß die Dichotomie bei dieser documenta durchbrochen ist – leider nicht genug. Schade finde ich, daß von David und Jean-François Chevrier nicht untersucht wurde, welche Möglichkeiten es noch in der Malerei gibt oder was es mit dem „neuen Surreralismus“ auf sich hat, von dem Chevrier in dem spannenden Katalog spricht. Natürlich ist es auch schwer, Erfahrungen wie die von Lygia Clark oder Helio Oiticica zu transportieren, aber das hat mir sehr gut gefallen. Was noch wichtig ist: Diese documenta ist auch eine Art Rettung für die bildende Kunst. Sie holt sie aus ihrer Enklave. Ich kenne Leute vom Theater, vom Film oder aus der Architektur, die durch diese documenta endlich wieder auf die bildende Kunst schauen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die bildende Kunst wird doch immer kleiner und unbedeutender im Vergleich mit anderen Disziplinen.

Ihr Lob für die documenta ehrt Sie besonders, da Sie bekanntlich bei der Wahl der künstlerischen Leitung für die zehnte documenta gegen Catherine David den kürzeren gezogen haben. Wie weit hat das Ihre Zusammenarbeit gestört?

In der ersten Zeit hat das natürlich gestört, als Catherine David sagte – was ich heute im übrigen sehr schätze: „Ich muß das alleine machen!“ Heute ist mir klar, das muß man auch alleine machen. Auch die Kritik muß man alleine tragen, und die Kritik ist sehr schwer, z.B. wurde Jan Hoet von der documenta 9 kollektiv getragen. Aber nur davor und währenddessen – danach ist er allein geblieben. Überhaupt war Harald Szeemann der einzige, den man nach einer documenta wiedersehen wollte, die anderen haben das nie geschafft. Aber bitte: Um experimentell zu sein, muß man dieses Risiko auf sich nehmen.

Experiment bedeutet immer Reduktion, d.h., es fehlt immer irgend etwas, und dieses Fehlen ist auch der Kunstrezeption inhärent. Die Arbeit, das aufzufüllen, die muß man selbst machen, und die Möglichkeit dazu gibt Catherine David mit dieser documenta. Die Diskussionen, die die Documenta- Besucher bei „100 Tage – 100 Gäste“ mitmachen können, sind doch vielleicht wichtiger als das Taxieren von Bildern, auch wenn das Publikum sagt, was es nur sagen konnte die letzten 20 Jahre: „Ich habe es gesehen, aber fragen Sie mich bitte nicht, was ich davon halte, denn das weiß ich nicht, das wissen die anderen.“ Aber ich frage Sie: Wer sind die anderen? Interview: Antje Petzold

Die documenta X endet am kommenden Sonntag.

Programm der „100 Tage – 100 Gäste“ im Internet unter http:// www.documenta.de