Schieflage bei Geheimakten

Historiker wollen nicht nur in Stasi-Akten, sondern auch im Archiv des Bundesnachrichtendienstes forschen. Deutscher Geheimdienst strikt dagegen. CIA geht mit „openess“ voran  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) – Historiker verlangen, auch die westdeutschen Archive zu öffnen, um die jüngere deutsche Geschichte zu erforschen. Am Mittwoch will in Bonn die Parlamentarische Kontrollkommission, zuständig für die Aufsicht über die Geheimdienste, erstmals erörtern, ob beispielsweise Akten des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus den 50er und 60er Jahren freigegeben werden könnten.

Mitte Juni hatten WissenschaftlerInnen bei einer Tagung zur Geschichte des Widerstandes in der DDR in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand vehement einen Zugang zu den Archiven des Bundesnachrichtendienstes gefordert. Die TeilnehmerInnen demonstrierten an Beispielen, in welchen Fällen die BND-Akten hilfreich sei könnten: So seien mindestens acht Bürger der DDR in der DDR zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, weil sie Kontakt zum Pullacher Geheimdienst gehabt hätten. Dringend geklärt werden müßte unter anderem auch, welchen Einfluß der BND u. a. auf die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ im Berlin der Nachkriegszeit gehabt habe.

Auf seiten der Nachrichtendienste wird das Anliegen der Geschichtswissenschaftler in aller Regel zurückgewiesen. Zum einen wird als Argument ein noch heute notwendiger „Quellenschutz“ angeführt. Zum anderen erklären die Dienste, sie führten keine Archive, für die die Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes zuträfen.

Mit der Öffnung der DDR-Archive wurde für die DDR-Hinterlassenschaft die ansonsten übliche 30-Jahre-Sperrfrist für Archivalien aufgehoben. Sämtliche westdeutschen Unterlagen unterliegen aber weiterhin dieser Sperrfrist, wenn sie denn überhaupt unter das Bundesarchivgesetz fallen sollten. Hermann Weber, Mannheimer Geschichtsprofessor und Mitglied der Bonner Enquetekommision „Überwindung der Folgen der DDR-Diktatur“, konstatiert deshalb eine „Schieflage“ in der jüngeren Geschichtsforschung. Insbesondere in der Diskussion der Deutschlandpolitik der siebziger und achtziger Jahre „erwies sich diese Asymmetrie als eher hinderlich beziehungsweise problematisch“. In einer Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament schrieb Weber Ende Juni: „Nachdrücklich bleibt weiterhin darauf zu bestehen, daß der Wissenschaft die Einsicht insbesondere in Überlieferungen der Parteien, des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen oder des Verfassungsschutzes und des BND für die Zeit bis 1989/90 gestattet wird.“

Auf diese „Schieflage“ haben schon 1994 in der Enquetekommission Sachverständige und Mitglieder von SPD und Bündnisgrünen hingewiesen. In einem Sondervotum bei der Verabschiedung des Kommissionsberichtes hielten sie fest: Es sollte geprüft werden, „ob auch für die Bestände westlicher Archive eine vorzeitige Aufhebung der 30-Jahre-Sperrfrist möglich ist. Schon jetzt droht sich eine bedenkliche Asymmetrie der Forschung zu verfestigen.“

Ein bemerkenswertes Beispiel in Sachen Aktenfreigabe kommt aus den USA. Der wohl bekannteste der US-Geheimdienste, die CIA, betreibt seit 1993 eine Politik der „openess“. Unter dieser wurden bis heute große Mengen von Aktenmaterial für Forschungszwecke freigegeben. Auf diese Unterlagen gestützt wurden seither umfangreiche Studien veröffentlicht, etwa zur Frühgeschichte der CIA, den überzogenen amerikanischen Einschätzungen über das sowjetische Rüstungspotential oder über die Pläne der CIA, den kubanischen Staatschef Fidel Castro durch von der Mafia gedungene Mörder umbringen zu lassen. Die CIA, die wie andere Geheimdienste nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in eine tiefe Legitimationskrise stürzte, versucht mit ihrer „openess“ zu zeigen, wie nützlich und abwägend im Urteil die außen- und sicherheitspolitischen Einschätzungen der CIA im Kalten Krieg doch waren.