Schicksal als Strafe

■ Vater muß sich vor dem Hamburger Landgericht wegen der Tötung seines schwerbehinderten Kindes verantworten

Strafe soll warnen, sühnen, resozialisieren. Doch was soll sie in einem Fall wie dem von Aleksander K., der unter seiner traurigen Geschichte zweifellos mehr leidet als unter einem Gefängnisaufenthalt? Auch die Staatsanwaltschaft plädierte gestern nur auf Bewährung und damit für die Freiheit des 32jährigen – obwohl dieser sein schwerbehindertes Kind getötet und sich damit zum Herrn über dessen Leben und Tod gemacht hat.

Nüchtern und sachlich verhandelte das Landgericht die Fakten. Befragte Aleksander K. nach der Krankengeschichte des Kindes, nach den vielen Operationen, die es ertragen mußte und nach jener Nacht, in der der Vater schließlich die Nerven verlor und seinen Sohn mit dem Kopf auf den Boden schlug. Der Angeklagte wirkt völlig deplaziert in dem nüchternen Gerichtssaal. Er weint unaufhörlich und ist mehr mit sich, mit der Erinnerung und seiner Trauer beschäftigt. Ihm sei egal, was mit ihm passiere, sagt er, und man glaubt es ihm aufs Wort.

Acht Jahre waren Aleksander und Olga K. verheiratet und wünschten sich sehnlichst ein Kind. Immer wieder wurde Olga K. schwanger, immer wieder hatte sie Fehlgeburten, insgesamt viermal. Dann die fünfte Schwangerschaft. Das fünfte Mal Hoffnung.

Weit war diese Schwangerschaft schon fortgeschritten, der Traum von einem Kind so nah, daß das Ehepaar kaum wahrhaben wollte, was dann geschah: Der Junge mußte im sechsten Monat als Frühgeburt per Kaiserschnitt geholt werden. Nach drei Tagen hatte er schwere Hirnblutungen. Wasser sammelte sich im Kopf. Die Ärzte wollten sofort operieren. Doch daß das langersehnte Kind krank sein sollte, glaubten die Eltern den Ärzten nicht. „Es wirkte so normal, es war ganz still“, wiederholt Aleksander K. vor Gericht immer wieder und begründet damit, wieso sie die Einwilligung zur Operation verweigerten. Zwei Wochen später hatte das Krankenhaus sich die Einwilligung vom Vormundschaftsgericht geholt. Zu spät. Teile des Gehirns waren bereits zerstört. „Erst nach den Operationen hat mein Sohn Tag und Nacht geweint“, beharrt der Angeklagte.

„Er hat das Kind sehr geliebt“, betont der Verteidiger, und die Staatsanwältin nickt zustimmend. Doch der Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr. Tag und Nacht habe das Kind geweint und geschrien, tagein, tagaus – wohl, weil es solche Schmerzen hatte. Schließlich hielt der Vater es nicht mehr aus. Nachdem er sein Kind getötet hatte, riefen die Eheleute selbst die Polizei.

„Ich habe es erlösen wollen“, sagt Aleksander K. Doch niemand hat das Recht, einem behinderten Kind das Leben zu nehmen. K. wird wegen Totschlags verurteilt werden. Seine Frau hatte mittlerweile ihre fünfte Fehlgeburt.

Elke Spanner