In Polen beginnt das Tauziehen um die Posten

■ Psychologische Probleme erschweren eine schnelle Regierungsbildung

Warschau (taz) – „Einen Ministerpräsidenten zu Weihnachten?“ titelte die Warschauer Tageszeitung Trybuna bereits am Tag nach den polnischen Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag. Und tatsächlich: zwar haben die Wahlen eindeutige Mehrheitsverhältnisse geschaffen, doch ohne einen Koalitionspartner wird weder die siegreiche und bislang außerparlamentarische Wahlaktion Solidarność (AWS) noch das seit 1993 regierende und jetzt zweitplazierte Demokratische Linksbündnis (SLD) in der Lage sein, eine regierungsfähige Mehrheit zu stellen.

Der polnische Staatspräsident wird die erste Parlamentssitzung erst für den 17. Oktober einberufen, da an diesem Tage die neue Verfassung Polens in Kraft tritt. Bis dahin sollten die Parteien sich auf einen Kandidaten für einen Ministerpräsidenten geeinigt haben, damit der Präsident ihn mit der Regierungsbildung beauftragen kann. Da aber in allen Parteien nicht nur sehr machtbewußte Politiker das Wort führen, diese vielmehr auch noch überzeugt sind, die absolut beste Lösung für alle Probleme in Polen gefunden zu haben, werden sich die Koalitionsverhandlungen hinziehen.

Denkbar sind vor allem zwei Konstellationen. Zum einen, und dies erwarten die meisten Politiker, ein Zusammengehen von AWS und Freiheitsunion (UW), die als drittstärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen ist. Die Koalition hätte 272 von 400 Sejmsitzen inne. Das Hauptproblem in den Verhandlungen dürfte ein psychologisches sein: die beiden Parteivorsitzenden Marian Krzaklewski (AWS) und Leszek Balcerowicz (UW) können sich gegenseitig nicht ausstehen.

Große inhaltliche Probleme dürfte es weniger in den Fragen Beitritt zu Nato und EU geben als bei wirtschaftlichen Weichenstellungen für die nächsten Jahre. Die AWS vertritt in starkem Maße Gewerkschaftsinteressen. Sie wird daher staatliche, unrentabel arbeitende Großunternehmen eher subventionieren als privatisieren. Im Endeffekt könnte das Polen den „Tiger“-Status unter den osteuropäischen Reformländern kosten.

Eine zweite Möglichkeit wäre ein Zusammengehen von SLD, UW und der Bauernpartei, die bislang zusammen mit der SLD die Regierung stellte. Diese Koalition würde über 240 Mandate verfügen. Auch hier ist das Hauptproblem ein psychologisches: Noch immer nämlich sitzen in der postkommunistischen SLD außer einigen jungen und fortschrittlichen Politikern auch Betonköpfe aus dem alten Regime. Die Bauernpartei ist eine ehemalige Blockpartei, der es nur darauf ankommt, möglichst viele Pfründen an sich zu ziehen. Beide Parteien haben bisher jede Form der Vergangenheitsaufarbeitung boykottiert. Die Anhänger und Politiker der UW aber saßen in der Zeit der Volksrepublik für ihre politische Meinung zum Teil jahrelang im Gefängnis. Ohne eine ausführliche Aussprache über die Vergangenheit wird keine stabile Koalition zustande kommen. Gabriele Lesser