Ein Streik der ganzen Familie

Am Sonntag sind die Liverpooler Docker seit genau zwei Jahren im Streik gegen ihre Entlassung. Streikbrecher von außerhalb machen ihnen das Leben schwer – sie wollen weiter durchhalten  ■ Aus Liverpool Ralf Sotscheck

Big Audio Dynamite haben in letzter Minute abgesagt. Dafür stehen nun Hunkpapa, die Isrights und die Lovers auf der Bühne des Royal Court Theatres in Liverpool. Die jugendlichen Zuhörer, Durchschnittsalter 16, stammen wie die Rockbands aus der englischen Hafenstadt am Mersey.

Es ist kein normales Rockkonzert. Die Eintrittsgelder, zehn Pfund pro Kopf, gehen an die streikenden Liverpooler Hafenarbeiter. „Rock the Docks“ heißt die Veranstaltung, und viele Jugendliche tragen das DoCKer-Streik- T-Shirt, das die Calvin-Klein-Werbung auf die Schippe nimmt. Robbie Fowler, Fußballer des FC Liverpool, mußte eine Geldstrafe zahlen, weil er nach einem Tor das Trikot hochgezogen hatte und darunter das Docker-T-Shirt zum Vorschein kam.

Die roten Teppiche des viktorianischen Royal Court Theatre sind zerschlissen, das Holz hat dunkelbraune Patina angesetzt, die Goldfarbe am Logen-Geländer bröckelt ab, und zahlreiche Birnen in den Kronleuchtern sind kaputt. Ein etwa 15jähriger, der zuviel Bier getrunken hat, steht im Gang und pinkelt auf den Teppich, obwohl die Toiletten keine fünf Meter entfernt sind. „Unterstützt die Docker“, ermahnt er die Vorbeigehenden.

Unterstützung haben sie bitter nötig. Seit zwei Jahren sind die 500 Hafenarbeiter nun im Streik, von ihrer Gewerkschaft sind sie im Stich gelassen worden. Angefangen habe es bei Torside, der Tochtergesellschaft der großen Mersey Docks and Harbour Company (MDHC), erzählt Mike Carden vom Streikkomitee. „Am 28. September 1995 kam der Vorarbeiter nach Schichtende und ordnete an, daß 20 Docker weiterarbeiten sollten“, sagt er. „Dann fügte er hinzu, daß die Firma die bisherige Überstundenzulage nicht mehr länger zahlen würde.“ Die Docker beriefen eine Versammlung ein, um zu beraten. „Dann kam der Vorarbeiter“, sagt Carden, „zeigte auf eine Handvoll Leute und erklärte sie für gefeuert. Als die anderen protestierten, wurden sie ebenfalls kurzerhand entlassen.“

Am nächsten Morgen standen die 80 Torside-Arbeiter an der Hafeneinfahrt. „Kein echter Docker würde an einem Streikposten vorbeigehen“, sagt Carden, und so blieben auch die anderen 420 Docker an der Hafeneinfahrt stehen – und wurden gefeuert. „Ich habe in den Docks gearbeitet, seit ich 16 bin“, sagt Carden. „Das sind 24 Jahre, auf die ich stolz bin. Mein Vater war Hafenarbeiter, mein Großvater auch. Er starb in den zwanziger Jahren im Laderaum eines Schiffes, als er beim Entladen unter einer schweren Kiste begraben wurde.“

Carden mag die laute Rockmusik eigentlich nicht, er ist mit seinen beiden Söhnen zum Konzert gekommen, um seine Dankbarkeit für die Solidarität zu zeigen. Als einer der wenigen Erwachsenen im Saal fällt er schon von weitem unter den Teenagern auf. Als er in den Docks anfing, arbeiteten noch 25.000 Menschen im Hafen. Die Docker konnten damals eine ihrer wichtigsten Forderungen durchsetzen: 1967 wurde der Tagelohn in britischen Häfen vorübergehend abgeschafft. Das Hafenregister garantierte den eingetragenen Dockern fortan Arbeit und Lohn.

Dann kam Margaret Thatcher. Ihre Tory-Regierung schaffte das Register 1989 wieder ab, das Prinzip des Tagelohns feierte Wiederauferstehung: Wenn kein Schiff da ist, gibt es keine Arbeit und keinen Lohn. Nur in Liverpool, wo der Streik der Gewerkschaften am längsten dauerte, konnten sich die Unternehmer nicht durchsetzen, die Hafenarbeiter verteidigten ihre festen Arbeitsverhältnisse und ihre gewerkschaftliche Organisation.

Es war nur eine Galgenfrist. Vor drei Jahren, erzählt Mike Carden, begann Torside mit gezielten Provokationen, um die Hafenarbeiter zur freiwilligen Kündigung zu treiben. „Schichtpläne wurden einfach über den Haufen geworfen“, sagt er, „die Spätschichten oft willkürlich verlängert.“ Mit ihrem Streik liefen die Docker in die Falle. „Solidaritätsstreiks sind nach britischem Recht illegal“, sagt Carden, „gegen die Entlassungen gibt es deshalb kein Rechtsmittel. Das wußten wir natürlich vorher, aber sollten wir unsere Rechte, die unsere Väter und Großväter erkämpft haben, einfach so aufgeben?“

Die Mersey Docks and Harbour Company, deren Hauptaktionär die britische Regierung ist, heuerte Streikbrecher an. „Sie kommen von außerhalb“, sagt Carden. „Es sind meist ehemalige Soldaten, die auch schon mal unsere Streikposten zusammenschlagen.“ Die Liverpooler Docker halten zusammen. Sie seien wie eine große Familie, sagt er, man kennt den Vater des anderen, hat mit seinem Onkel zusammengearbeitet oder die Pensionierung des Großvaters gemeinsam gefeiert. „Jetzt sind unsere Frauen in vorderster Front“, sagt Carden.

Vor der Einfahrt zu den Norse Irish Docks an der Dock Road steht ein Dutzend Frauen. Die meisten haben sich Kopftücher umgebunden, um sich gegen den Wind zu schützen, der von der Irischen See hereinweht. Manche halten Plakate hoch: „Dockers in, Scabs out“ – Streikbrecher raus. Andere haben Trillerpfeifen mitgebracht, die den Streikbrechern noch lange in den Ohren klingen, wenn sie morgens an den Frauen vorbeigegangen sind. Es sind die „Women of the Waterfront“, die Frauen von der Küste – kurz: WOW! Bis der Streik losging, war keine von ihnen politisch aktiv gewesen.

Louise Gibbs ist Hausfrau, seit zwei Jahren kommt sie täglich zum Hafen, nachdem sie die Kinder zur Schule gebracht hat. „Die Docks waren nie ein Ort für Frauen“, sagt sie, „und als ich das erste Mal herkam, war ich ziemlich nervös. Dann sah ich die Männer da stehen, und es herrschte eine Atmosphäre, als wenn der Hafen gerade gestorben sei. Und das wird er auch, wenn unsere Männer nicht wieder eingestellt werden.“

Wenigstens wisse sie jetzt, was sie mit ihrer Freizeit anfangen soll, meint Patricia Harding sarkastisch. Sie hatte 20 Jahre in einer Tabakfirma gearbeitet, dann machte das Unternehmen Anfang der Neunziger dicht. „Seit zwei Jahren steht nun auch mein Mann auf der Straße“, sagt sie, „aber wir lassen uns nicht kaufen. 25.000 Pfund Abfindung haben sie uns angeboten, aber keine Jobs. Ich bleibe vor dieser Hafeneinfahrt, damit die Streikbrecher nicht denken, das irgendwann Gras über die Sache wachsen wird.“

Manchmal ziehen die Frauen auch vor die Häuser der Streikbrecher und skandieren Parolen, um sie vor den Nachbarn zu blamieren. „Streikbrecher sind nirgendwo in Liverpool wohlgelitten“, sagt Caroline Topping. „Mein Mann hat die Streikbrecher angebrüllt, als sie an den Streikposten vorbeigingen. Im Handumdrehen wurde er verhaftet. Man hat ihn zu zwölf Monaten auf Bewährung verknackt. Er ist 60, und er hatte bisher keine Vorstrafen. Ich bin stolz auf ihn.“

Als die 55jährige ein paar Schritte an dem kleinen Wachhäuschen vorbeigeht, kommt sofort ein rundlicher Mann in einer gelben Ölhaut herausgeschossen und schickt sie wieder zurück hinter die rotweiße Schranke. Sie befinde sich auf Privatgelände, sagt er unwirsch. „Hier wird schließlich gearbeitet“, fügt er hinzu und zeigt auf die flachen weißen Container hinter einem Metallzaun, die gerade aus der Belfast-Fähre links von der Hafeneinfahrt ausgeladen worden sind. Ein Stück weiter wirbt ein großes Schild: „Welcome to Luxury Waterside Living“.

Früher sei das alles Teil des Hafens gewesen, sagt Topping. „Heute wohnen die Yuppies dort, unsereins kann sich so etwas nicht leisten.“ Es ist nicht einfach, mit zwei Söhnen, die ebenfalls ihre Jobs im Hafen verloren haben, über die Runden zu kommen, sagt sie. „Wir haben aber aus der ganzen Welt finanzielle Unterstützung erhalten. Nur von unserer eigenen Gewerkschaft nicht.“

Auch aus Libyen kam Geld. Mitte September verlieh Oberst Gaddafi zwei „Women of the Waterfront“, Doreen McNally und Sue Mitchell, einen Ehrenpreis für Menschenrechte. Die beiden Frauen akzeptierten die Ehrung und flogen nach Tripolis, was ihnen herbe Kritik im Rathaus von Liverpool einbrachte – doch der mit der Ehrung verbundene Geldpreis von 30.000 Pfund floß in die Streikkasse.

Am 20. Januar, den die britischen Schauerleute mit Unterstützung der Internationalen Transportarbeiter-Föderation zum weltweiten Aktionstag erklärt hatten, kam es in 82 Häfen rund um den Globus zu Boykotts, Arbeitsniederlegungen und Protestversammlungen. In vielen Häfen werden Schiffe von Reedereien, die Liverpool noch anlaufen, nicht mehr abgefertigt. Das zeigt Wirkung: Von den acht Reedereien, deren Schiffe regelmäßig in Liverpool anlegten, sind nur noch sechs übrig, die MDHC-Aktien gingen in den Keller.

„Diese Solidarität ist ja kein Zufall“, sagt Topping. „Die Liverpooler Docker haben auch immer geholfen, wenn man sie gebraucht hat.“ Waren für das südafrikanische Apartheid-Regime oder Pinochets Militärdiktatur in Chile blieben liegen, 3.000 Tonnen Chemieabfälle wurden an den Absender zurückgeschickt, und als 1984 die britischen Bergarbeiter streikten, griffen die Docker tief in die Taschen. „Unser Streik dauert nun schon länger als die Mammutaktion der Kumpel, die von Margaret Thatcher in die Knie gezwungen wurden“, sagt Topping. „Wir werden aber keine Ruhe geben, bis die Entlassungen rückgängig gemacht werden. Und wenn es noch zwei Jahre dauert.“

Information und Spenden: Bro. J. Davies, 19 Scorton Road, Liverpool 6 4 AS (Schecks zahlbar an Merseyside Port Shop Stewards Appeal Fund)