Prozeßhansel blockieren Gerichte

■ 11.000 Zivilklagen pro Jahr machen der Bremer Justiz zu schaffen / Jeder Amtsrichter muß jährlich 650 Fälle bearbeiten: Dabei geht es, so wie gestern, auch schon mal um 29 Mark

Dem Kläger ging es ums Prinzip. Drei Tage lang blockierte ein grüner Jaguar seine Garageneinfahrt. Weil der Autoliebhaber seinen Oldtimer, einen GLAS 1700, Baujahr 1967, mit Originallackierung unter keinen Umständen auf der Straße stehen lassen wollte, fuhr er in die Tiefgarage eines Hotels. Dem wilden Parker steckte er einen Brief unter den Scheibenwischer. Als der sich trotzdem achselzuckend weigerte, den Jaguar wegzufahren, zog der Mann vor Gericht. 29 Mark (9 Mark Parkgebühr, 10 Mark für die Ermittlung des Fahrzeughalters, 10 Mark für das Einschreiben und den Rückschein plus zwei Mark Papier) und acht Prozent Zinsen wollte der Kläger gestern vor dem Bremer Amtsgericht erstreiten.

„Das ist kein Einzelfall“stöhnt Karen Buse, Vizepäsidentin des Amtsgerichts und Zivilrichterin. „Die Menschen gehen immer mehr dazu über, jedes Unglück zu einem Fall zu machen.“Eine Tendenz, die sich auch aus der „Tapete“, der Statistik des Amtsgerichts, einer vier Kilo schweren Papierrolle, ablesen läßt: Rund 10.400 Mal zogen die BremerInnen im vergangenen Jahr vors Gericht. Tendenz steigend. Bis August wurden 7.500 Zivilklagen erhoben. Wenn die Prozeßwut der BremerInnen anhält, rechnet Buse bis zum Jahresende mit rund 11.000 Zivilprozessen. Das heißt, jeder der 17 Richter am Amtsgericht müßte 650 Fälle pro Jahr bearbeiten.

Darunter auch solche, die Karen Buse gerade vor zwei Tagen verhandelt hat: Eine Frau verliert beim Tanzen ihre Brille. Eine andere Frau tritt drauf. Die Brille ist kaputt, die Brillenträgerin zieht vor Gericht. „Die Frau ist selbst schuld, wenn ihr die Brille runterfällt“, urteilt Richterin Buse. Viele unsinnige Klagen seien den Rechtsschutzversicherungen zu verdanken, die die Prozeßkosten übernehmen, vermutet Karen Buse.

„Stimmt nicht“, wehrt sich Christian Paul, Pressereferent der D.A.S.-Versicherungen in München. „Über 70 Prozent unserer Fälle werden außergerichtlich beigelegt.“„Rechtsschutzversicherte sind keine Prozeßhansel“, beteuert auch Klaus Brandenstein, Pressereferent des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft in Bonn. Um Prozeßhansel abzuschrecken, würden die Versicherer Mindestbeträge vereinbaren, die die Mitglieder selbst zu zahlen hätten.

Blieben nur noch die Anwälte, die an den Bagatellfällen ihrer Mandanten verdienen. 1.200 zugelassene AnwältInnen gibt es im Land Bremen. „In 75 Prozent der Fälle sind Anwälte streitschlichtend“, versichert Dr. Henning Hübner, Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer Bremen. „Fälle unter 3.000 Mark Streitwert sind gar nicht kostendeckend.“Ein „halbwegs vernünftiger Anwalt“würde Bagatellfälle mit 30 Mark Streitwert ablehnen. Die Gebühren für den Prozeß gegen den Jaguar-Fahrer liegen weit darunter: 100 Mark plus 15 Mark Auslagen bekommt der Anwalt. Das gleiche bekommt der Anwalt des Jaguarfahrers. Hinzukommen 150 Mark Gerichtskostenvorschuß, von denen der Oldtimer-Fan 100 Mark zurückerstattet bekommt, weil er die Klage gestern zurückgezogen hat. Der Halter des Jaguars war nicht der Fahrer, der ihm die Einfahrt zugeparkt hat. Der Mann hatte seinen Jaguar verliehen. Jetzt will der Oldtimer-Fan gegen den Fahrer vors Gericht ziehen. Die Gerichtskosten und Anwaltsgebühren würden sich dann verdoppeln. Es geht ihm ums Prinzip, sagt er. Übrigens: Er ist Anwalt. Kerstin Schneider