„Eigentlich ein friedfertiger Mensch“

Geiselnehmer in der JVA Tegel ließ Vollzugsbeamte unverletzt frei. Behörden feiern einen gelungenen Einsatz. In Deutschlands größtem Knast herrscht eine angespannte Atmosphäre  ■ Von Holger Wicht

Die Geiselnahme in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel ist Mittwoch nacht glimpflich zu Ende gegangen. Kurz nach 21 Uhr war die Geisel unverletzt in Freiheit, der Täter unter Kontrolle. Eine halbe Stunde später traten Polizeipräsident Hagen Saberschinsky und Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) als zufriedenes Pärchen vor das Tor der größten Haftanstalt Deutschlands und lobten den Polizeieinsatz einmütig als „voll professionell“. Obwohl es in Berliner Gefängnissen noch nie eine Geiselnahme gegeben habe, so die Senatorin, sei man optimal vorbereitet gewesen.

Allzu schwer hatte es der 49jährige Häftling Reinhold T. dem Sondereinsatzkommando der Polizei (SEK) freilich nicht gemacht. Gegen 14 Uhr hatte er die 50jährige Vollzugsbedienstete „Danny“ W. in seine Gewalt gebracht und sich mit ihr in seiner Zelle verbarrikadiert. Nach gut sieben Stunden und einem etwa 15minütigen Gespräch mit einer Verhandlungsgruppe des Sondereinsatzkommandos gab er die Schließerin freiwillig frei, ohne Forderungen erhoben zu haben – nur anfangs hatte er nach Medienvertretern verlangt. Nach Angaben eines Polizeisprechers hat er die Geisel zu keinem Zeitpunkt mit seiner Waffe, einem skalpellähnlichen Messer, bedroht, sondern brachte sich lediglich in Anwesenheit der Beamtin selber Schnittwunden bei. Als das SEK ihn in Gewahrsam nahm, leistete er keinen Widerstand.

T., der eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung für Raub und einen Mord verbüßt, galt bislang bei Insassen wie Bediensteten der JVA als ein unauffälliger und freundlicher Häftling, der zuverlässig seiner Hilfstätigkeit beim Anstaltszahnarzt nachkam. Polizeipräsident Saberschinsky erklärte, allen Anzeichen nach habe der Mann sich am Mittwoch in einer psychischen Ausnahmesituation befunden. Auch Justizsprecherin Corinna Bischoff vermutet, es habe sich um eine Verzweiflungstat gehandelt. T.s Mithäftling S.B. bestätigt dies: „Reinhold ist eigentlich ein vollkommen friedfertiger Mensch.“ Vor der Geiselnahme sei T. bei einem Anstaltspsychologen gewesen: „Da muß irgend etwas in ihm aufgewühlt worden sein.“

Für T.s Mithäftling, der mit ihm in Haus 5 der Tegeler Anstalt einsitzt, ist die offenkundig spontane Tat auch eine Folge miserabler Haftbedingungen. Die Stimmung in der JVA Tegel sei zur Zeit sehr gespannt, im Zuge von Einsparungen hätten die Häftlinge immer weniger Kontakt zur Außenwelt. Es gebe kaum noch Freizeitangebote und zu wenig Vertrauenspersonen. Zuletzt hat im Herbst 1996 die Evangelische Landeskirche die 9,5 Seelsorger-Stellen für alle acht Berliner Gefängnisse auf 5,5 zusammengestrichen. „Da staut sich auf Dauer immer mehr Frust auf, die Leute fühlen sich in die Enge getrieben.“ Die betroffene Vollzugsbeamtin ist für B. eine „sehr liebe Frau, die wir eigentlich alle gern haben. Zu ihr kann man auch mit Problemen kommen.“ Nun wird sie als Ansprechpartnerin vorerst ausfallen: Gestern nachmittag befand sie sich nach wie vor in psychologischer Behandlung, Peschel-Gutzeit hat ihr Sonderurlaub gegeben. Nach Ansicht der Justizsenatorin sind Geiselnahmen in Gefängnissen nie ganz auszuschließen, ein Sicherheitsdefizit in der JVA bestehe nicht. Ihre Sprecherin Bischoff wies aber darauf hin, daß ein weiterer Personalabbau in Tegel nicht zu verantworten sei.

Dem wird kein Häftling widersprechen, bedeutet doch weniger Personal in der Regel längeren Einschluß und noch weniger Freizeitangebote. Zumal nach der Geiselnahme offenkundig ohnehin ein strengerer Wind durch die Anstaltsflure weht: Die Fußballmannschaft der taz, die im Oktober gegen eine Knacki-Auswahl antreten sollte, wurde jedenfalls gestern kurzerhand ausgeladen – aus Sicherheitsgründen. Holger Wicht