„Daß mir hier keiner zuviel erwartet!“

Wer beim Offenen Kanal sendet, will Kiezkultur fördern, seine Mission verbreiten oder einfach nur Blödsinn reden. „Gnadenlose Demokratie“: Vor Kamera und Mikro darf jeder, der einen Ausweis hat  ■ Von Kirsten Niemann

Nur noch 10 Minuten bis zur Sendung, allerhöchste Eisenbahn für die Deko also. Schnell werden ein paar Poster und Starschnitte von den Backstreet Boys, der Kinder-Combo Hanson, Blümchen und all den anderen Teenie-Stars aus den mitgebrachten Bravo-Heften getrennt und an die mausgraue Teppichwand des Studios gepinnt. Dann ein paar Abziehbildchen ans Telefon geklebt – fertig. Die Moderatoren Daniel und Pascal, zwei spätpubertierende Jungs mit Brille und Turnschuhen, wirken nun doch ein wenig zappelig. „Daß mir hier keiner zuviel erwartet!“

Seit Anfang Februar stellen sie sich zweimal im Monat für ihre Jakobs Kreuzfeldshow“ im Offenen Kanal Berlin live vor die Kamera und nehmen Anrufe entgegen. Eine Call-in-Show, der sie selbst den Untertitel „Allgemeine Volksverblödung“ gegeben haben, was in Anbetracht des folgenden Programmablaufs allerdings geschmeichelt ist. Das schwachsinnige Thema der heutigen Sendung: „Sind Nick von den Backstreet Boys und Blümchen ein und dieselbe Person?“

Erstaunlich eigentlich, aber das Telefon steht nicht still. Ständig rufen Leute an, Freunde oder Klassenkameraden mit verstellter Stimme, und richten im Idealfall einfach nur Grüße aus. Meistens tönt jedoch nur unverständliches Gepruste und Geschimpfe aus der Mithöranlage: „Ihr seid doch schwul!“ und „Fickt euch ins Knie!“ Das sind die Statements, die hier mehr als nur einmal zur Sprache kommen. Daniel und Pascal tragen das mit Fassung. Ist ein Anrufer gar zu blöd, wird er eben weggedrückt. Das Anliegen der Jungs: zur besten Sendezeit, um 20 Uhr, 60 Minuten reinsten Irrsinn zu produzieren, sonst nichts. „Heute waren wir viel besser als in unserer letzten Sendung“, findet Pascal, nachdem der letzte Anrufer abgefertigt wurde.

Jürgen Linke, der Chef des OK, staunt schon lange nicht mehr über diese „unheimliche Freude“ der Zuschauer, sich über Telefon und Fernsehen zu unterhalten. „Call- in-Shows gehören heutzutage nun mal zur Jugendkultur“, findet Linke. Ganz egal, wie wenig sinnstiftend so ein Beitrag auch sein mag – der Offene Kanal ist ein Forum für alle BürgerInnen. Und wenn die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, dann darf keine Geschmackskontrolle greifen.

Ein Punkt, der nicht unumstritten ist. Besonders nach dem unappetitlichen Programm der fünf jungen glatzköpfigen Burschen vor gut zwei Wochen, die sich vor laufender Kamera mit Kräuterschnaps betranken, in Plastikeimer kotzten und ihre Penisse aus den Hosen kramten. „Ekel-TV in Berlin“, titelte denn auch sofort ausgerechnet die B.Z.. Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) beeilte sich daraufhin zu erklären, daß der Zuschauer „vor qualitativ unvertretbaren Sendungen“, die er auch noch finanziert habe, geschützt werden müsse. Derartiges Gerede hält Linke schlicht für verlogen. Das Parlament habe den Offenen Kanal einmal bewilligt, also müsse es die Sendungen vielmehr „vor diesem Müll schützen“, den die Regenbogenpresse nun über den OK gießt.

Bereits seit den späten Siebzigern beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder, zunächst in Pilotprojekten mit Breitbandkabel, eine möglichst breite Palette von neuartigen Hörfunk- und Fernsehprogrammen zu erproben. Auf der Internationalen Funkausstellung 1979 in Berlin hat die Medienoperative Berlin e.V. zum ersten Mal für zehn Tage einen Offenen Kanal simuliert. In Nordrhein- Westfalen (Dortmund), Bayern (München) und Rheinland-Pfalz (Ludwigshafen und Teilen der Pfalz) liefen ähnliche Projekte. Eine sogenannte „Expertengruppe Offener Kanal“ mit Sachverständigen aus Kirche, Gewerkschaften, verschiedenen Parteien und Rundfunkanstalten erarbeiteten einen Katalog von Forderungen und Zielvorstellungen, nach deren Regeln bis heute alle Offenen Kanäle arbeiten. Demnach hat jeder ein Anrecht auf kostenlose Nutzung des Kanals, ist für den Inhalt seiner Beiträge jedoch selbst verantwortlich.

Erst vier Jahre später, im Januar 1984, ging der OK Ludwigshafen als erster Bürgersender der Republik ans Netz. Im Juni 1985 folgte schließlich Dortmund, im August nahm der OK Berlin unter der Schirmherrschaft der „Projektgesellschaft für Kabelkommunikation mbH“, der heutigen „Medienanstalt Berlin-Brandenburg“, seinen Sendebetrieb auf. Finanziert wird der Bürgersender aus zwei Prozent der Rundfunkgebühren.

Mittlerweile senden 56 Offene Kanäle im Bundesgebiet. In Rheinland-Pfalz, Nordrhein- Westfalen und Niedersachsen häufen sie sich. Unverbesserlich konservativ regierte Länder wie Bayern und Baden-Württemberg gehen dagegen bis heute leer aus.

Von den Berlinern wurde ihr Offener Kanal in den vergangenen zwölf Jahren gut angenommen. Zur Zeit gehen jeden Monat knapp 100 neue Personen in die Nutzerkartei ein. Im Hörfunk-Bereich belegen die Bürger-Beiträge etwa 10 Stunden am Tag, im Fernsehen sind es 9 Stunden. Einzige Bedingung, um im OK zu senden: der Nutzer muß im Besitz eines Personalausweises sein.

Um die Chancengleichheit bei der Vergabe der Sendezeiten zu gewährleisten, werden alle Termine in der Reihenfolge ihrer Anmeldungen vergeben. Etwa 40 Prozent des Programms werden von regelmäßigen Nutzern gestaltet. Um ihnen und ihrem Publikum daheim an den Geräten die Programmplanung zu erleichtern, können sie sich um feste Sendeplätze bewerben, die zweimal jährlich verlost werden. Fünfzehn Mitarbeiter des OK Berlin sind für die Organisation und Abwicklung des Sendeplans verantwortlich sowie für die Beratung, Betreuung und Schulung der Interessenten.

Die Nutzer, fast ausschließlich Amateure, haben die unterschiedlichsten Motive für ihre Sendungen. Ein Großteil der Leute hat Missionarisches im Sinn und will ausposaunen, was ihnen schon immer auf den Keks ging. Etliche betreiben das Senden einfach als Hobby, sei es aus Spaß, um Blödsinn zu verbreiten, oder weil sie sich ernsthaft um Belange in ihrem Kiez kümmern wollen und auf diesem Wege auf Resonanz hoffen. Andere wollen sich im Medienbereich einmal beruflich qualifizieren und kommen schlicht zum Üben.

Das im OK präsentierte Themenspektrum ist dabei denkbar weit gefächert. Eine Sendung über Königsschlösser läuft beispielsweise vor der „Jakobs Kreuzfeldshow“. In der Sendung „Besser miteinander leben“ lästert ein kettenrauchender Hans-Joachim Walter über seine Zeitgenossen, bevor ein splitternackter Tantra- Anhänger namens Andro mit Hilfe tropischer Früchte die Erscheinungsformen des Oralsex vom Embryo bis zum Greis veranschaulicht. Bei der Live-Sendung „Pfeiffers Ballhaus“ toben auch schon mal angeschwipste Senioren durch das Studio.

Der fremdsprachliche Anteil im OK ist mit 40 Prozent recht hoch: Die indonesisch-christliche Gemeinde verschafft sich hier genauso Gehör wie national gesonnene Türken und hitzige Kurden. „Gnadenlos demokratisch“ nennt OK-Chef Jürgen Linke das, denn darüber sind sich alle, auch die radikalsten Nutzer, im klaren. Jeder hat nur deshalb das Recht zu kommen, weil der politische Gegner das auch darf. „Wenn die bei uns im Haus sind, verhalten sich alle ganz brav und grüßen sich sogar“, beschreibt Linke Szenen auf dem Flur. „Nur in den Sendungen fallen sie übereinander her.“

Der Offene Kanal bietet Freiräume, die bei kommerziellen Sendern nicht möglich sind. Um das zu verteidigen, nimmt Linke gerne mal eine Neonazi-Sendung in Kauf, wenn es denn sein muß. Deren Beiträge, wie die des „Radio Germania“ im letzten Jahr mit seinen „arischen Nachrichten“, werden ohnehin der Landesmedienanstalt gemeldet. Fortsetzungen solcher Programme oder Wiederholungen können also – sofern ein Rechtsverstoß vorliegt – durchaus verhindert werden.

„Ein Offener Kanal muß auch mal umstritten sein“, findet Linke. „Sonst wäre er kein offener Kanal. Und mal ehrlich: Haben wir im wirklichen Fernsehen nicht viel mehr Ekel-TV?“