Der entlegenste aller Orte

50 Jahre nach der Niederschrift erscheinen die Erzählungen der Italienerin Liana Millu über das Frauenlager Auschwitz. „Der Rauch über Birkenau“ sind Momentaufnahmen, die die Darstellbarkeit des Holocaust behaupten  ■ Von Michael Westphal

In welchem Verhältnis steht eine „literarische Entdeckung“ (Verlag) zu einer historischen Entdeckung? Wer die Publikationsgeschichte des wohl berühmtesten Überlebensberichtes aus dem Holocaust erinnert, den läßt der Begriff einer „literarischen Entdeckung“ oder gar einer Sensation, die ein Verlag nunmehr imstande ist vorzulegen, nüchtern. Primo Levis Zeugnis aus Auschwitz, „Se questo è un uomo“, das sich ganz auf die Frage des Überlebens und der Entmenschlichung im Lager konzentriert, tauchte erst zu Beginn der neunziger Jahre wieder in deutscher Fassung auf. Dreißig Jahre spukte dieses Buch durch die Verlagshäuser, erlebte spärliche Auflagen. Heute ist es ein unschätzbares literarisches Dokument über den Holocaust. Ein anderes Beispiel: Zwanzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Ungarn erschien Imre Kertész' „Roman eines Schicksallosen“ im vergangenen Jahr in Deutschland. Kertész rekonstruiert darin die Wahrnehmung des staunenden Kindes, das nach Auschwitz deportiert wird und dort in eine Welt des Neuen und Ungereimten eintritt: „... und da ich von vielen neuen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen müde und schläfrig war, bin ich auch bald eingeschlummert.“

Die Italienerin Liana Millu schrieb ihre sechs kurzen Geschichten aus dem Frauenlager Auschwitz-Birkenau schon 1947 nieder. Jetzt erscheinen sie unter dem Titel „Der Rauch über Birkenau“. Schon damit entzieht sich Millu dem Versuch, Zeugnis vom eigenen Überleben abzugeben, wie es in etwa bei Ruth Elias' „Die Hoffnung erhielt mich am Leben“ verbürgt ist.

Liana Millu kreist mit ihrem Buchtitel eine Wahrnehmung ein, von der nahezu sämtliche Überlebensberichte sprechen: der bestialische Gestank, der von den verbrannten Leichen ausging, wenn die Krematorien nach einer Selektion auf Hochtouren arbeiteten und ein hartnäckiger Rauch über Birkenau lag. „Wutentbrannt deutete ich auf die Krematorien. Sie brannten allesamt, haushohe Flammen durchbrachen das neblige Dunkel, und in ihrem Schein erkannte man den Sprühregen, der gerade einsetzte.“

Unprätentiös, im Stil eines Rapportes, sucht sich Millu einen Wahrnehmungsgegenstand, eine Begebenheit. Die einzelnen Erzählungen haben plakative Titel: „Lili Marleen“, „Brot und Musik“, „Hochspannung“, „Fünf Rubel“, „Scheißegal“, „Unbemerkt“. Daß sie Authentizität beanspruchen können, ergibt sich aus der Lebensgeschichte der Autorin: Liana Millu wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und konnte 1945 die Befreiung des Lagers miterleben. Die erzählte Ich-Figur ist jedoch als fiktionalisiertes Element zu verstehen.

Das ist in der Holocaust-Literatur scheinbar problematisch, weil es nahelegt, hier werde frei Erfundenes berichtet, das sich angesichts der Thematik zu verbieten habe. Der Journalistin Millu geht es aber in ihrer literarischen Konstruktion vorrangig um die Erzählbarkeit, also die Darstellbarkeit des Holocaust.

Bereits mit der Herausgabe lose zusammengefügter Erzählsequenzen hat sich die Autorin für eine bestimmte literarische Form entschlossen, in der es nicht primär um ein Ich geht, das chronologisch Anfang und Ende eines Schreckensszenarios verfolgt, wie es etwa Ruth Klüger mit ihrem Bericht „weiter leben“ beabsichtigt, der mit der unbeschwerten Wiener Kindheit einsetzt und den Weg von der Deportation nach Theresienstadt bis zur späteren Emigration nach Amerika beschreibt. Was Liana Millu hier entwirft, sind überaus komprimierte Prosaminiaturen. In Momentaufnahmen nähert sie sich ihrem Gegenstand ohne Umschweife. Jeder erste Satz eröffnet sofort ein neues Geschehen, in das der Leser unmittelbar hineingezogen wird. Keine ruhige Erzählinsel gilt es zu betreten. Genauso wie den Frauen, von denen Millu schreibt, keine Verschnaufpause vergönnt ist. Tieren gleich und unter den wachsamen Augen der Kapo, ziehen sie die lehm- und steinbeladenen Loren durch den aufgeweichten Boden.

„Unbemerkt“ heißt Millus letzte Geschichte. Es geht um die Geburt eines Kindes im Frauenlager. Monatelang hat Maria ihre Schwangerschaft verbergen können. Dann verbluten Mutter und Kind auf der schmutzigen Strohunterlage. Die Zeit aber kann nicht angehalten werden. Und diese wird bestimmt durch den Appell: „Es war noch dunkel, doch unser Tag mit seinen vorgeschriebenen, unabänderlichen Abläufen hatte begonnen, der unerbittliche Tag von Birkenau, der keine Geburten kannte und keine menschliche Regung, nur schweigendes Sichfügen in seine mitleidlosen Gesetze.“

Millus Erzählungen sprechen von spezifischen Überlebensformen, die sich aus dem Zusammenhalt der Frauen untereinander ergaben und die immer wieder durch Habgier, Verrat und Mißgunst in Frage gestellt wurden. Keine davon hat einen guten Ausgang, sehen wir einmal vom Überleben der Zeugin, die hier niederschreibt, ab. Mia ist privilegiert. Sie ist Kapo und verabredet sich regelmäßig für einen schnellen Beischlaf mit einem Mann, ebenfalls Kapo. Weil Lili zum falschen Zeitpunkt seinen Augen begegnet – was der eifersüchtigen Mia nicht entgangen ist –, wird diese bei der nächsten Selektion beiseite geräumt: „Die da, Herr Doktor. Sie deutete auf Lili. Immer kaputt. Nicht arbeiten.“

Bruna soll ihren kleinen Sohn an ein Strafkommando verlieren. Das sichere Todesurteil. Als Mutter und Sohn sich nahe dem Hochspannungszaun ein letztes Mal erblicken, laufen beide dem tödlichen Stacheldraht entgegen: „Er erreichte die Umzäunung, und in dem Moment, als seine kleinen Arme die der Mutter umschlangen, blitzten violette Flammen auf, die Drähte summten unter dem Stoß, und beißender Brandgeruch breitete sich aus.“

Liana Millus Erzählungen halten keine Hoffnung bereit. Der Rauch über Birkenau schleicht sich als Leitmotiv in jede der sechs Erzählungen ein. Im Rauch scheiden die dahin, die sich nicht länger an diesem entlegensten aller Orte halten können: „Mir kam Jeannette in den Sinn, wie sie den schweren Rauchschwaden nachsah, die über den Krematorien in den Himmel stiegen. Sie sagte, das seien die Seelen der älteren Lagerinsassen, in ordentlichen Fünferreihen marschierten sie ins Himmelreich. Die leuchtend weißen Rauchwölkchen, die launenhaft verfolgen, fast wie ein Hauch, waren die Seelen der Kinder und der Neuankömmlinge, die den Lagerdrill noch nicht kennengelernt hatten. So waren auch Adelas Tochter und ihr Enkelchen verflogen, staunend noch, leichthin, während Adela selbst mit dem lastenden Rauch einer Gruppe von selektionierten Alten aufsteigen würde.“

Den Mitgefangenen, die den „tiefsten Grund des Abgrunds ... berührt haben“ (Primo Levi) und das Lager über den Schornstein verlassen haben, sind die sechs Erzählungen aus dem Frauenlager Auschwitz-Birkenau gewidmet. Ihnen fühlt sich Liana Millu verpflichtet.

Liana Millu: „Der Rauch über Birkenau“. Mit einem Vorwort von Primo Levi. Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Antje Kunstmann, München 1997, 190 S., 32 DM