Verlorene Dämonen in Atlantis

Der Hafen, in dem man sich einst von Kreuzberg aus einschiffte, hieß Kochstraße. Einer im Abseits, der heute so strahlt wie die Zwischenstationen, die einst tot waren und als das dunkle Meer durchquert werden mußten. Er glänzt wie der U-Bahnhof Friedrichstraße selbst. Einst wurde man, im unterirdischen Hafen von Atlantis angelangt, von Alkdämonen empfangen, die der Kiosk auf dem Bahnsteig mit ihrem Gift versorgte. Heute, inmitten von Weiß und Gelb, freundlich und deutlich von vielen Lampen ausgeleuchtet, keine Spur mehr von Dämonen.

Der niedliche Jungmensch mit dem Fusselvollbart und den Stirnlocken (während der Hinterkopf rasiert ward) mag freilich den kleinen Angestellten aus Oranienburg erschrecken, hellgraue Hose, Popelineblouson und geflochtene Lederschuhe in Beige. Atlantis hat es nie gegeben: Wer den U-Bahnhof Friedrichstraße in Richtung Dorotheenstraße verläßt (wie der fusselige Jungmensch), glaubt das sofort.

Dem kleinen, sorgfältig gescheitelten Angestellten folgend, gelangen wir aber in einen langen Gang. Hinter diesen verschlossenen Aluminiumtüren begannen die umständlichen Rites de passage nach Atlantis, die dich stets kurzfristig zum innerlich tobenden, äußerlich starren Feind des Sozialismus machten? Der kleine Angestellte hat uns zur Restbevölkerung von Atlantis geführt. Sie versammelt sich auf dem unterirdischen S-Bahn-Steig. Hier wartet traurig auf den Anschlußzug die Arbeiterklasse, deren Kontinent in einer einzigen Nacht versank. Sie läßt uns wissen, daß Atlantis wirklich existierte.

Aber nicht mehr lange. Michael Rutschky

Michael Rutschky, gebürtiger Berliner, ist 54 Jahre alt und schreibt regelmäßig u.a. für die taz. Der Heinrich-Mann-Preisträger veröffentlichte 1997 im Steidl- Verlag das Buch „Die Meinungsfreude – Anthropologische Feuilletons“.