„Ungestraft getriezt und angespuckt“

■ Heinz Seemann: Eine Jugend in Hamburg im nationalsozialistischen Alltag

Jeder Schultag kam für Heinz Seemann und seinen jüngeren Bruder einem Spießrutenlauf gleich: „Unsere Mitschüler durften uns ungestraft triezen und anspucken. Morgens wurden wir fein angezogen in die Schule geschickt, abends kamen wir häufig zerrissen nach Hause.“Der Glauben ihrer Mutter machte die beiden Jungen, die die Knabenschule Schillerstraße im Stadtteil Uhlenhorst besuchten, zu verspotteten Außenseitern. 1931 war der Mutter nach der Ehescheidung das Sorgerecht für die beiden Söhne zugesprochen worden.

Im Februar 1936 beantragte der Vater, inzwischen in zweiter Ehe mit der NS-Reichsfrauenführerin verheiratet, die Aberkennung des Sorgerechts für die beiden aus der gemeinsamen Ehe stammenden Kinder. Er begründete sein Verlangen damit, daß seine geschiedene Frau die Jungen nicht im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie erziehe. Trotz einsetzender Ermittlungen durch das Jugendamt weigerte sich die Mutter beharrlich, die zehn- und elfjährigen Söhne zum „Jungvolk“zu schicken.

„In der Zeit ging die Gestapo bei uns ein und aus“, erinnert sich der pensionierte Verwaltungswirt heute. „Meine Mutter ließ sich 1933 als Zeugin Jehovas taufen. Weil sie ihrem Glauben nicht abschwören wollte, verbrachte sie im Gestapo-Gefängnis am Stadthaus einige Wochen in U-Haft und kam im November 1935 vier Monate ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel.“

Während dieser Zeit wuchs bei Heinz Seemann, der damals den Zeugen Jehovas noch nicht angehörte, der Haß auf die Obrigkeit. Der Junge weigerte sich, zusammen mit seinen Klassenkameraden Nationalhymne und Horst-Wessel-Lied anzustimmen. „Wir mußten uns jeden Morgen in Hufeisenform aufstellen und singen. Ich sagte meinen Lehrern aber, solange meine Mutter im KZ sitzt, bin ich nicht bereit, das System zu unterstützen.“

Die Lehrer schauten sich das nicht lange tatenlos an. „Wir wurden bei jeder Gelegenheit vorgeführt und verspottet.“Weniger gehässige Pauker versuchten, den kleinen Heinz davon zu überzeugen, Opfer einer Irrlehre zu sein. 1937 wurde die Restfamilie getrennt. Nachdem Heinz Seemann unehrenhaft aus der Hitlerjugend entlassen worden war, stellte das Amtsgericht fest, „daß es im Interesse der Kinder geboten ist, daß die Mutter das Sorgerecht für die Kinder nicht mehr ausübt.“Noch im selben Jahr wurde die Frau als „unbelehrbare Angehörige einer staatsfeindlichen Sekte“und „Volksschädling“zu drei Jahren Haftstrafe verurteilt.

Heinz Seemann kam in verschiedene Pflegestellen zu Bauern in Niedersachsen, wurde im Februar 1943 in die Wehrmacht eingezogen und geriet anschließend in Kriegsgefangenschaft. Kurz nach seiner Entlassung ließ sich der damals 22jährige im November 1947 als Zeuge Jehovas taufen. vs