Worum geht es überhaupt?

Dem Berliner Mathematik-Professor Ulrich Pinkall dient die Anthroposophie als Orientierung bei seiner Suche nach wissenschaftlichen Zusammenhängen  ■ Von Wolfgang Löhr

Auf den ersten Blick ist der unbedarfte Laie ein klein wenig irritiert: Mathematik und Anthroposophie, wie soll das nur zusammenpassen. Kann es denn überhaupt Gemeinsamkeiten geben zwischen der zur „Königin der Wissenschaft“ gekrönten Rechenkunst und der von mystischen Vorstellungen und Gefühlen durchwobenen Lehre Rudolf Steiners?

„Das sind Vorurteile!“ Ulrich Pinkall, Professor für Mathematik an der Technischen Universität (TU) in Berlin, widerspricht mit großer Vehemenz. Das Gegenteil sei der Fall: „Die Mathematik ist sehr dicht an der Art und Weise, wie man auch anthroposophisch forscht“, erläutert der Wissenschaftler.

„In Wirklichkeit ist Mathematik nicht das, was man sich gemeinhin darunter vorstellt.“ Es sei eben auch in der Welt der Zahlen beileibe nicht so, „daß alles nach vorgefertigten Mustern und Formeln abläuft, und am Schluß steht dann ein Ergebnis“. Schon gar nicht, wenn man sich in dieser bekanntlich unendlichen Welt auf kaum erkundetes Terrain vorwagt.

Um zu erklären, wie man sich mathematische Forschung vorzustellen habe, zeichnet Pinkall das Bild von einer „Traube von mehreren Mathematikern“, die, an der Tafel stehend, „allerei wilde Vermutungen“ äußern und „merkwürdige Skizzen“ aufmalen. „Das ist mehr so ein Vortasten in einen unbekannten Raum“, beschreibt der Forscher seine Arbeit. Sein Handwerkszeug müsse ein Mathematiker natürlich kennen, aber um neue, interessante Lösungswege zu finden, seien auch bestimmte Sekundärtugenden vonnöten, die nach landläufiger Einschätzung in der Zahlenlehre überhaupt nichts verloren haben: Fingerspitzengefühl und Gespür zum Beispiel. „Gerade bei dieser Orientierung ist die Anthroposophie eine große Hilfe.“

Gäbe es eine Rangliste der erfolgreichsten Wissenschaftler seiner Disziplin, könnte Pinkall sicher einen vorderen Platz für sich beanspruchen. Immerhin ist er Leiter des „Sonderforschungsbereichs“ (Sfb) 288: Unter dem für Laien nicht sonderlich aufschlußreichen Titel „Differentialgeometrie und Quantenphysik“ arbeiten Mathematiker und Physiker der drei Berliner Universitäten (TU, Freie und Humboldt-Universität) sowie der Universität Potsdam und der Technion Universität in Haifa, Israel, gemeinsam an einem interdisziplinären Forschunsgprojekt. Mehr als 10 Millionen Mark hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in den letzten fünf Jahren bereits in den Sfb gesteckt.

„Die Physiker und Mathematiker zusammenzubringen, ist für mich eine Herausforderung“, meint der Projektleiter. Was Außenstehende nämlich für einander doch recht eng verwandte Wissenschaften halten, sind für den Eingeweihten in Wirklichkeit „zwei verschiedene Denkkulturen“. Für ihn, den Mathematiker, sei es sehr schwer, genau nachzuvollziehen, wie ein Physiker arbeitet. „Die denken nicht nur dreimal so schnell, Physiker sind oft auch sehr intuitiv, sie fragen nicht so genau danach, wie eigentlich alles zusammenhängt“, charakterisiert er die Vorgehensweise seiner Kollegen. „Da ist für mich die Anthroposophie sehr hilfreich, um zu sehen, worum es da überhaupt geht.“

Sein Schlüsselerlebnis hatte Pinkall als 14jähriger. „Ich hatte so einen Spielcomputer zum Rechnen, mit Schiebeschalter und leuchtenden Lämpchen“, schildert der Mathematikprofessor. „Mir war klar, daß das Gerät nur so tut, als würde es denken; ein Bewußtsein hatte es nicht.“ Zwei, drei Jahre später habe er sich der Anthroposophie zugewandt: „Daß ich jetzt Mathematiker bin, hängt natürlich auch damit zusammen.“

Pinkall hat das naturwissenschaftliche Weltbild verinnerlicht. „Das steckt mir ziemlich tief in den Knochen, und dazu stehe ich auch.“ Die Physik, aber auch die Molekularbiologie findet er interessant und spannend. „Das sind für mich Fundgruben, um zu sehen, was für Verbindungen bestehen; was haben die Geologie oder der ,Big Bang‘ zu tun mit dem, was in der Anthropologie geschildert wird in bezug auf die Erdvergangenheit.“ Das sei nicht einfach nur schnöde Schulwissenschaft, als die sie von Esoterikern leicht abqualifiziert werde. Natürlich muß sich Pinkalls Arbeit an den gleichen Maßstäben messen lassen wie die seiner Kollegen – und das sind nicht unbedingt diejenigen der Anthroposophie. Die dient ihm lediglich zur Orientierung. „Sie ist eine Hilfe, aber einen direkten Einfluß auf mein Forschungsbiet hat sie nicht,“ unterstreicht Pinkall: „Eine spezielle ,anthroposophische‘ Mathematik gibt es nicht.“