■ Nebensachen aus Rom
: Erst den Führerschein, dann fahren lernen

In seinem Hauptberuf ist Gianni Maurer; da verdient er angesichts der derzeitigen Krise aber kaum etwas. Wesentlich einträglicher, sagt er, ist sein Nebenberuf: „Da bin ich Fahrlehrer.“ Allerdings keiner in einer Fahrschule, und Spezialautos mit zwei Kupplungen und zwei Bremsen und der Aufschrift „Scuola guida“ hat er auch nicht. Nein: „Ich bringe Leuten das Auto- oder LKW- Fahren bei, die den Führerschein schon haben.“

Wie das? Eigentlich geht das doch umgekehrt: Erst lernt man fahren, und dann bekommt man den Führerschein. „Nein, nein“, beteuert Gianni, „hier gibt es viele Leute, die haben zuerst den Führerschein und wollen dann erst fahren lernen.“ Denn den Führerschein, „den kann man sich auch kaufen. In Frosinone oder in Salerno oder sonstwo“.

Prüfung auf italienisch: Das Risiko durchzufallen scheint vielen allzu groß, da geht man dann lieber auf Nummer Sicher und kauft sich das Diplom, lernen kann man die Materie danach ja immer noch. Und das beileibe nicht nur in der Autobranche. Bei Durchsuchungen von Fälscherwerkstätten finden Carabinieri immer wieder erstaunt Hinweise auf Fälschungen selbst in höchst sensiblen Berufen.

Als etwa ein Fälscher in der Nähe von Neapel aufflog, stellte die Polizei Duplikate von mehr als vier Dutzend Zahnarzt-Approbationen sicher; doch der Gipfel waren 28 Pilotenscheine, die zum Führen auch großer Linienmaschinen berechtigten.

Kontrollen der Inhaber der gefälschten Papiere ergaben dann noch Erstaunlicheres: Keiner dieser falschen Dentisten oder Piloten war jemals durch einen Kunst- oder Flugfehler aufgefallen. Offenbar hatten sie alle ihr Metier später wirklich erlernt.

Warum die Italiener zu dieser merkwürdigen Verkehrung der Reihenfolge neigen, ist mit Prüfungsangst nur unzureichend zu erklären – denn Examen legen die meisten von ihnen ihr Leben lang gleich dutzendweise ab: Wer etwa eine Staatsstelle anstrebt, vom Kindergärtner bis zum Staatsanwalt, muß sich erst mal den „Concorso“ genannten Prüfungen unterziehen, auch wenn er alle Ausbildungs- und Tätigkeitsnachweise für die Stelle mitbringt. Daß man zuerst das Zertifikat kauft und danach erst lernt, muß wohl etwas mit den nur schwer durchschaubaren Riten und Bewertungen vieler Prüfungen und Überprüfungen zu tun haben.

Gianni jedenfalls fährt mit dem System ganz gut. Er glaubt auch nicht, daß er schlechtere Fahrer produziert als die regulären Fahrschulen. Dies aber nicht, weil er ein so guter Fahrlehrer ist. Nein, sagt er, „haste mal die Leute, die den Führerschein über Fahrschulen gemacht haben, nach ihrer Kenntnis der Straßenverkehrsordnung gefragt“?

Er hat recht. Bei einer Zufallsbefragung von eben entlassenen Fahrschülern zwischen 18 und 28 Jahren in der Nähe von Rom hat sich herausgestellt, daß mehr als dreißig Prozent von ihnen weder die Vorfahrtsregelungen noch die Straßenbenutzungsvorschriften kannten und daß ein weiteres Drittel zumindest einige Mängel in der Bewertung ihnen vorgestellter Situationen an Kreuzungen hatte.

Daß Italien dennoch, gemessen am Verkehrsaufkommen, auch nicht mehr Unfälle „produziert“ als beispielsweise Deutschland, erklärt Gianni einfach so: „Ich bringe denen eben bei, überall dort, wo sie nicht sicher sind, einfach rechts ranzufahren und zu warten, bis der Verkehr weg ist. Und ansonsten sage ich ihnen: zügig durchfahren, dann lassen dich die anderen schon.“

Glückliches Italien, das die gut achtzig Paragraphen der Straßenverkehrsordnung auf zwei kleine Essentials zusammenzukürzen vermag. Werner Raith