Gewerkschaften läuten den Sonntag ein

Generalstreik legt Israel lahm. Die Arbeitnehmerorganisationen sehen sich von der Regierung Netanjahu um die Renten geprellt. Die Regierung steht vor leeren Kassen, die Arbeitslosenzahlen steigen  ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen

Die Taxis waren gestern ausgebucht in Jerusalem. Viele Busse standen still. Die Schulkinder konnten sich über einen freien Tag freuen. Behördengänge waren nutzlos, der Briefträger kam nicht, und die Postämter waren geschlossen. Der Müll blieb liegen. Und wer ins Ausland fliegen wollte, mußte reichlich Geduld mitbringen, oder früh aufstehen. Die israelische Fluggesellschaft El Al hatte wegen des drohenden Streiks etwa zwei Dutzend Flüge in die Nachtstunden vorverlegt.

Der gesamte öffentliche Dienst war praktisch lahmgelegt. Die Angestellten in den Ministerien und Kommunen blieben zu Hause. Die öffentlichen Krankenhäuser arbeiteten nur nach einem Notdienstplan. Zahlreiche Operationen wurden aufgeschoben. Auch in der Metall-, der Textil- und Elektronikindustrie wurde gestreikt. Selbst die Arbeiter in Israels strategischen Rüstungsbetrieben legten die Arbeit nieder. Banken und Börse waren geschlossen. Die meisten Züge blieben im Bahnhof. Lediglich Soldatentransporte wollte die Bahn durchführen. Rund eine halbe Million Beschäftigte befanden sich nach Angaben des israelischen Gewerkschaftsverbandes Histadrut im Ausstand.

Anlaß des Streiks ist ein Streit zwischen der Gewerkschaft und der Regierung über eine Anhebung der Pensionen und Renten für Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes. Kurz vor der Wahl im Mai vergangenen Jahres hatten der Finanzminister der damals regierenden Arbeitspartei, Avraham Shovat, und Histadrutchef Amir Peretz eine entsprechende schriftliche Vereinbarung getroffen. Doch die nur sechs Zeilen lange, handschriftliche Übereinkunft wurde von der neuen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht anerkannt.

Während die Gewerkschaft das Papier trotz seiner wenig formellen Abfassung als juristisch verbindlich betrachtet, erklärte Finanzminister Yaakov Neeman, die Vereinbarung sei weder von der Regierung der Arbeitspartei noch von der Knesset bestätigt worden. Nach Angaben von Neeman würde die Besserstellung der Rentner dem Staat in den kommenden Jahren Milliarden kosten. Da sich das Defizit im Pensionsfonds bereits heute auf mehrere Milliarden Shekel beläuft, erklärte sich Neeman lediglich zu allgemeinen Verhandlungen über den Pensionsfonds und seine mögliche Sanierung bereit. Die durchschnittliche Rente liegt nach Angaben der Histadrut gegenwärtig zwischen 3.000 und 4.000 Shekeln, umgerechnet zwischen 1.500 und 1.900 Mark.

Erst kurz vor Streikbeginn um sechs Uhr gestern morgen hatte ein Arbeitsgericht den Streik der Histadrut für zulässig erklärt. Gegen den Ausstand geklagt hatten vor allem Unternehmer- und Kommunalverbände sowie die großen Banken. Das Gericht begrenzte den Streik allerdings auf acht Stunden. Die Histadrut hatte ursprünglich einen unbegrenzten „Generalstreik“ durchführen wollen. Am heutigen Montag will das Gericht über den Antrag der Histadrut auf Fortsetzung des Streiks entscheiden.

Der Streit um den Pensionsfonds war erst in den vergangenen Tagen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt. In den Wochen zuvor hatten Regierung und Histadrut vor allem über die Privatisierung und Umstrukturierung der zahlreichen israelischen Staatsbetriebe gestritten. Die Histadrut befürchtet durch die Privatisierung einen erheblichen Machtverlust. Eine Einigung der beiden Kontrahenten ist nicht in Sicht.

Der Gewerkschaftsverband wirft der Regierung eine „neoliberale“ Wirtschaftspolitik vor und macht sie für die in den vergangenen Monaten ständig steigende Arbeitslosenquote verantwortlich. Erst in diesem Monat hatte der Wissenschaftsminister vorgeschlagen, sein Ministerium aufzulösen, um Löhne und Gehälter zu sparen. Er selbst wollte sein Amt allerdings vom Büro des Ministerpräsidenten aus weiterführen.