■ Nachschlag: Reinhild Hoffmanns getanztes Solo "Vor Ort" im Hebbel Theater
Nachschlag
Reinhild Hoffmanns getanztes Solo „Vor Ort“ im Hebbel Theater
Diese Stunde des Tages war die längste. Zeit zu vertreiben ist kaum die Absicht von Reinhild Hoffmann. Der Kreis, den ihr langjähriger Bühnenbildner Johannes Schütz auf den Bühnenboden gezeichnet hat, gleicht dem Zifferblatt einer Uhr, dessen Minutenzeiger wir vorwärtskriechen sehen. Ein Ball und ein Tretroller markieren die Punkte auf dieser Linie, die von der Choreographin angesteuert werden: Schritt für Schritt gesetzt, jede Wendung des Oberkörpers wie mit dem Winkelmesser errechnet, fast jede Armgeste ein exaktes Parallelogramm. Flüchtig scheinen in dieser angespannten Langsamkeit expressionistische Spuren auf, als der Körper noch proletarisch und sein Schicksal schwer war: So vorwärts in den Boden gestemmt hat Mutter Courage ihren Wagen gezogen und Sisyphos seinen Stein gewälzt. Befreit von diesen Lasten, weiß der Körper nicht mehr, wie er seines Hier und Jetzt gewahr werden kann.
Mühelos bauen nackte Frauenarme in gleichmäßigem Takt eine Wand aus Brikett: Der Schweiß und Schmutz der Kohlereviere wird von ihrer eleganten Musealisierung verdrängt. Vor diesem Bild, das im zweiten Teil des Solos groß auf die Bühne des Hebbel Theaters projiziert wird, nimmt Hoffmann Briketts unter ihre Füße, als wären es die Kothurne des antiken Schauspiels. Sie hält sich die Blöcke vors Gesicht, bis nur ein Sehschlitz offenbleibt, den sie klackend schließt: Meint sie damit die Türen, die hinter ihr zugefallen sind?
Denn mit „Vor Ort“ beginnt für Hoffmann, die als Choreographin in Bremen (1978–1986) und Bochum (1986–1995) das deutsche Tanztheater prägte, eine neue Positionsbestimmung. Wie viele ihrer Mitarbeiter kam sie nach der Auflösung des Tanztheaters Bochum zurück nach Berlin. „Vor Ort“ ist als erster Teil einer Trilogie geplant, die den deutschen Ausdruckstanz, aus dessen Schule Pina Bausch, Susanne Linke und auch Hoffmann kamen, noch einmal ebenso befragt wie das Tanztheater der siebziger Jahre. So bezieht sich das asketische Solo sowohl auf die Stiftung einer elementaren Beziehung zwischen Körper und Welt in den Bühnenexperimenten am Beginn des Jahrhunderts als auch auf Hoffmanns Klärung ihrer eigenen Sprache mit dem „Solo mit Sofa“ 1977. Damals diente der Widerstand der Objekte, um die physische Energie der Bewegung wie unter dem Vergrößerungsglas sichtbar zu machen. Doch heute wirkt dieser emotionslose Minimalismus wie die Mobilisierung der letzten Reserven einer Moderne, die sich selbst nur noch als historischen Gegenstand begreifen kann. Katrin Bettina Müller
Heute, 20 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29, Kreuzberg
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