Kugellager zwischen zwei harten Punkten

Ein amerikanischer, ein sowjetischer und ein Doppelagent schreiben gemeinsam über Spionage im Kalten Krieg  ■ Von Wolfgang Gast

Drei alte Männer sitzen im Sand und erzählen Geschichten. Authentische, beteuern sie. Hinter sich haben die drei eine gut zwei Meter breite rostige Röhre, und vor sich hat jeder von ihnen auf dem Klapptisch ein 592 Seiten starkes Buch liegen. Titel: „Die unsichtbare Front“. Die Szene am Montag vergangener Woche scheint einem surrealen Film entnommen. Gut fünf Meter tief wurde im früheren amerikanischen Sektor an der Schönefelder Chaussee in den märkischen Sand gegraben, damit jetzt das Loch, die Herren, das Buch gebührend bestaunt werden können. Ein großes Schild weist aus, daß hier eine Firma mit Namen „Kummer“ gebuddelt hat und das es nicht irgendein Loch ist, das da am Stadtrand Berlins, in ländlicher Idylle, ins Erdreich führt. Hier wurde Geschichte freigelegt, genauer: ein Relikt des Kalten Krieges. Elf Monate und elf Tage war die Röhre vor vier Jahrzehnten in Betrieb – als Spionagetunnel, von den Briten und Amerikanern unter die Sektorengrenze hindurchgetrieben, um die geheimen Fernmeldestränge der sowjetischen Armee und Geheimdienste anzuzapfen.

Die drei Herren sind mittlerweile über siebzig, stilecht sind sie im beigen Trenchcoat erschienen: Georg Bailey, Mitarbeiter bei „Radio Liberty“ und nach dem Zweiten Weltkrieg für die Betreuung sowjetischer Überläufer in der US- Armee zuständig, Sergej Kondraschow, für die Berlin-Operationen des sowjetischen KGB zuständig und zuletzt der Leiter der Deutschlandabteilung in der Moskauer Zentrale, schließlich David Murphy, langjähriger Leiter der CIA- Basis in Westberlin und danach Leiter der Abteilung Sowjetunion im CIA-Headquarter. Die einstigen Gegner haben zusammen das dicke Buch verfaßt, in den USA ist es unter dem Titel „Battleground Berlin“ erschienen. Die drei Autoren berichten vom Aufbau der Geheimdienste im Nachkriegsberlin, vom Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, dem Überlaufen des ersten Verfassungsschutzpräsidenten der Bundesrepublik, Otto John, in den Ostteil der Frontstadt, vom Bau der Mauer 1961 und natürlich vom Spionagetunnel, der jetzt unter Denkmalschutz steht.

Bemerkenswert ist an dem Buch nicht nur, daß sich mit Murphy und Kondraschow zwei direkte Kontrahenten aus den Tagen des Kalten Krieges zusammenfanden, um eine Geschichte des Geheimdienstgerangels zu schreiben. Bemerkenswert ist auch, daß sich die beiden auf die Archive ihrer jeweiligen Nachrichtendienste stützen konnten. Die „Asymmetrie“, die bundesdeutsche Historiker beklagen, weil ihnen der Zugang zu den westdeutschen Archiven verwehrt ist, gilt für die unsichtbare Front wohl nicht. Vier Jahre bastelten die Exspione an ihrem Buch, und ohne den Journalisten mit Geheimdiensterfahrung, Georg Bailey, wäre es wohl nicht zustande gekommen. Bailey hat aus den Aussagen seiner beiden Koautoren und mit den freigegebenen Unterlagen von KGB und CIA „aus beiden Perspektiven eine Synthese“ hervorgebracht. Er bezeichnet seine Rolle „als Kugellager zwischen zwei ziemlich harten Punkten“. Manchmal sei es schon schwergefallen, die entgegengesetzten Standpunkte der beiden „Profis“ zu kombinieren.

Im Ergebnis ist ein Werk entstanden, das manchem Klischee über die düstere Welt der Nachrichtendienste zuwiderläuft. Keine Episoden eines James Bond, keine Liebesspiele um Geheimnisse zu entlocken und die Akteure zu erpressen: Es ist ein eher trockenes Buch. Es zeichnet den Geheimdienstkrieg vor dem Hintergrund einschneidender historischer Ereignisse nach und versucht im Rückblick den Nutzen und Ertrag der Geheimdienstarbeit zu werten.

Beispielhaft wird etwa dokumentiert, wie die Schlapphüte den 17. Juni verschliefen. Die Sowjetführung wurde erst am Vorabend des Aufstandes von ihrem überraschten Berliner Auslandsspionagedienst „über den offenen Widerstand von Arbeitern gegen die Arbeitspolitik der Partei, die Inbesitznahmen und Zerstörung von Parteieigentum, die Teilnahme von SED-Mitgliedern und Funktionären an den Demonstrationen und, was am wichtigsten war, die mangelnde Urteilsfähigkeit und Passivität der SED-Führung während der Entstehung der Krise“ unterrichtet.

Den Autoren zufolge war die Berliner CIA-Basis vom Aufstand genauso überrascht. „Wir wurden kalt erwischt“ zitierten die Autoren einen der damaligen Berichteschreiber. Jahre später sollte sich das wiederholen, 1961 beim Bau der Mauer. Die BOB (Berlin operations base) der CIA hatte keinerlei Anzeichen für die Schließung der Grenzen und die Errichtung des Eisernen Vorhangs. Der Geheimdienst war über Nacht von seinem Agentennetz im ostdeutschen Land abgeschnitten.

Auch im Fall des Spionagetunnels wird Sinn und Unsinn der Nachrichtendienste erörtert. Noch vor Baubeginn der 600 Meter langen Röhre waren die gemeinsamen und höchst geheimen Pläne des britischen SIS und der amerikanischen CIA an die Sowjets verraten worden. Von George Blake, einer hochrangigen Quelle im britischen Geheimdienst. Blakes Führungsoffizier war seinerzeit Sergej Kondraschow, einer der drei Autoren. Blake sollte als Quelle im SIS unbedingt geschützt werden. Hätten die Sowjets die Tunnelpläne frühzeitig aufgedeckt, Blake wäre dadurch warscheinlich enttarnt worden. Und so lieferte der Ende Februar 1955 fertiggestellte Tunnel bis zu seiner propagandistisch inszenierten Entdeckung am 22. April 1956 noch tausendfache wertvolle Informationen, während die Staatsführung in der Sowjetunion, ohne daß der Westen dies wußte, nach Wegen suchte, das Leck im eigenen Kommunikationsnetz abzudichten.

Kaum eine Regierung, resümieren die Autoren, „dürfte je über ihre Gegner so genau informiert gewesen sein wie die Moskauer“. Nirgendwo allerdings „fiel die Disparität zwischen Information und Einfluß deutlicher ins Auge als in Ostdeutschland. Gezwungen, das Diktat ihrer Führer hinzunehmen, schrieben die Agenten ihre Berichte so um, daß sie in die herrschende sowjetische Ideologie paßten.“

Georg Bailey/Sergej Kondraschow/David Murphy: „Die unsichtbare Front“. Ullstein-Propyläen Berlin, Berlin 1997, 592 Seiten, 58 DM