: Lebensmotto: "Wie du mir, so ich dir"
■ Die Sorge um fehlende Ausbildungsplätze, Arbeitslosigkeit und finanzielle Absicherung bewegt die Jugendlichen am stärksten. Dies belegt die neue Studie des Erziehungswissenschaftlers Horst W. Opaschow
taz: Daß junge Leute Arbeitslosigkeit als existentielles Problem sehen, kann nicht wirklich erschrecken, jeder hat heute Angst davor.
Horst W. Opaschowski: Im Moment ist die junge Generation der unter Dreißigjährigen von dieser Frage am meisten betroffen. Für sie ist es die Zukunftsherausforderung. Ihre Einschätzung des Problems wird immer gravierender; 1989 sahen 82 Prozent Arbeitslosigkeit als drängendes Problem, heute sind es 93 Prozent. Das ist fast eine ganze Generation, die sich dieser Meinung anschließt. Wo gibt es heute schon solche Werte? Höchstens bei der Frage „Wer sieht fern?“ kommt man zu ähnlichen Ergebnissen.
Warum protestieren sie nicht?
Arbeitslosigkeit veranlaßt die unmittelbar Betroffenen nicht zur Solidarität. Wenn demonstriert wird, sind es diejenigen, die noch im Erwerbsprozeß stehen, die eine Gewerkschaft im Rücken haben, die ihre Ängste noch ausdrücken können, weil sie berufstätig sind.
Weil die Rückenstärkung fehlt, fehlt auch der Mut zum Protest?
Es gibt keine Institution, die ihre Interessen vertritt. Also werden Jugendliche ihre Ohnmacht noch mehr auszuleben versuchen. In unterschiedlicher Form: Gewalt, Kriminalität, Drogenkonsum oder im asozialen Verhalten.
Eigentlich müßten Jugendliche verärgert sein über die geringe praktische Solidarität, die sie erleben?
Als Sozialforscher weiß ich, daß die meisten Menschen in Deutschland nach dem Prinzip leben: Wie du mir, so ich dir. Solidarität ist immer nur dann gut, wenn sie nicht weh tut. Konkret: 88 Prozent der Älteren ab 65 denken in erster Linie an die Sicherung der eigenen Rente und nur zu 57 Prozent an die Schaffung von Ausbildungsplätzen. Bei der Jugend ist es genau umgekehrt: 82 Prozent sorgen sich um die Ausbildungsplätze, aber nicht einmal jeder zweite hält die Rentensicherung für ein Problem. Wenn ich es provozierend sagen will: Der brave Bürger denkt zuerst an sich selbst, egal ob er 15 oder 55 ist.
Wenn ein Generationskonflikt ausbleibt, was passiert dann?
Den großen Knall wird es nicht geben. Dennoch bleibt das Ganze nicht ohne Folgen. Arbeitslosigkeit führt nicht zum Protest nach außen, sondern zur Flucht nach innen. Ich beobachte ein Abdriften in verschiedenen Formen. Wir erleben mittlerweile die wachsende Bedeutung der Psychoszene, den zunehmenden Drogenkonsum, die Bedeutung von Psychopharmaka und die Flucht in Grenzerlebnisse. Das sind Fluchten in künstliche Paradiese. Das bezeichne ich als Abdriften ins Leere.
Erklärt die Neigung zu kleinen Fluchten das zurückgehende Engagement in Ökofragen und anderen gesellschaftlichen Bereichen?
Das Umweltbewußtsein war zu Zeiten des Zenits der Wohlstandsentwicklung auf seinem Höhepunkt. Heute, wo es an die eigene Substanz geht, werden andere Dinge dringlicher. Da gehören Arbeit und Ausbildung dazu und auch die Bekämpfung der Kriminalität, von der Jugendliche teilweise selber Opfer sind. Zwei Drittel sind der Meinung, daß Kriminalität ein vordringliches Problem bedeutet. Es ist wichtiger als die eigene Wohnungsnot oder die Aids-Vorsorge.
Sind Sie von den eigenen Umfrageergebnissen enttäuscht?
Ja. Weil ich institutionell sowenig damit bewegen kann. Früher stellte ich fest, daß es einen Marsch durch die Institutionen gab, heute entdecke ich, daß es eine Flucht aus den Institutionen und der sozialen Verantwortung gibt. Interview: Annette Rogalla
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