Letter from Shanghai
: Athen am Huangpu

■ Klassik à la chinoise: Gipsern Hingestreckte – Apollo, Venus etc. – schauen dich an. Kein Shanghaier Schwimmbad ohne edle Einfalt, kein Feinschmecker-Restaurant ohne stille Größe

Vielleicht war es eine Gegenreaktion auf ein Übermaß an asiatischen Eindrücken, aber zu den ersten Dingen, die in Shanghai erworben wurden, gehörte ein klassischer Gipskopf: der Apollo Belvedere, den seit dem 18. Jahrhundert Generationen von Grand-Tour-Reisenden aus Italien ins restliche Europa schleppten.

Dieser Gips steht allerdings, in Gesellschaft weiterer bekannter Antikenkopien, in einer großen Buchhandlung in der Fuzhou Lu, zwischen den Kunst- und Architekturbänden. Es gibt einen Markt fürs klassisch Proportionierte und gipsern Geweibte.

Beim Venus Restaurant in der Huashan Lu schmücken hingestreckte nackte Frauenkörper graeco-römischer Provenienz die Fassade, beim Verlassen eines der Villencompounds begeistert mich jedesmal der gegenüberliegende Laden für Stukkaturen und allerlei Neoklassisches. Im ovalen Pool der Rome Gardens kann man seine abendliche Schwimmrunde absolvieren, beäugt von stummen Hochhaustürmen und antiken Figuren.

Eine kolossale korinthische Säulenordnung überfängt die obersten vier Stockwerke eines neuen Luxushochhauses im Shanghaier Norden, bekrönt von einem Belvedere, an dessen vier Seiten stummelige Säulen Rundbögen stemmen. Der Werbeprospekt betont ausdrücklich das einmalige Design im „European classical style“, und man schlägt einigermaßen verwirrt den Weg zum Bund, Shanghais kolonialer Schauseite am Huangpu, ein.

Denn Shanghais erster großer Bauboom bot nicht nur der architektonischen Moderne eine einmalige Chance, wie kürzlich auf diesen Seiten festgestellt wurde (taz vom 9.6. 1997). Die ausländischen Mächte errichteten zwischen 1870 und 1948 am Flußufer eine Monumentalarchitektur, die den Widrigkeiten des schwammigen Bodens trotzte und die ältere, vor allem die chinesische Bebauung zwergenhaft erscheinen ließ.

Die Bankgebäude und das 1927 fertiggestellte Customs' House signalisierten jedem, der sich der Stadt auf dem Wasserweg näherte, überdeutlich die in den internationalen Niederlassungen Shanghais konzentrierte ökonomische Potenz. Vollkommen zu Recht interpretiert der aktuelle Stadtführer der Shanghaier Tourismusbehörde den Brutalklassizismus der Jahrhundertwende als reine Machtdemonstration: Besonders die Fassade der britischen Hongkong and Shanghai Bank von 1923 mit ihrer schwer rustizierten Sockelzone, über deren drei rundbögigen Eingangstoren sich Kolossalsäulen und schließlich die mächtige Kuppel erheben, exemplifiziert die einschüchterne Größe des Geldes. Heute krönt der rote Stern die Spitze der Kuppel, und die gewaltigen Bauten stehen im Schatten der neuen Hochhäuser.

Für einen Teil des aktuellen Shanghaier Baubooms ist offensichtlich eine ihrer ursprünglichen Bedeutung in Antike und Renaissance weitgehend beraubte Architekturikonographie zur verpflichtenden Architektursprache geworden. Dabei erfüllen die klassischen Bau- und Schmuckelemente zwei Funktionen: Zum einen stellen die chine sischen Architekten, deren akademische Ausbildung sie mit dem notwendigen Wissen über die antiken Ursprünge der westlichen Architektur versorgt hat, in ihren Entwürfen eine Verbindung zu der kosmopolitischen Vergangenheit der Stadt wieder her. Zum anderen will man die heutigen Bewohner mit vermeintlich authentischen Zeugnissen europäischer Kultur beeindrucken und sie zugleich in ihrem sozialen Status bestätigen.

Denn, so weiß es der Prospekt von Victoria Plaza, die Ausstattung und der Service des neuen Wohnkomplexes entsprechen der „regal identity of our tenants“. Da akzeptiert man gern seine neue, königliche Identität und haust in Apartmentburgen, deren Dächer mit Tempeln geziert sind.

Fraglich ist allerdings, ob aus den Blaupausen der postmodernen chinesischen Architektur ein Weg zurückführt in die Peripathetik, wie sie ein Shanghaier Dichter vor sich sieht: „In den Wandelgängen, zwischen den imposanten Säulen, ließen sich Dialoge der klassischen griechischen Art wiederaufführen.“ Stephanie Tasch