Die Entdeckung Amerikas

Das ging sein' sozialistischen Gang: Wie die Eingeborenen der DDR die Fremden aus dem Westen kommen sahen und wie sie – den Ureinwohnern Amerikas ähnlich – deren wundervolle Geräte bestaunten  ■ Von Thomas Rosenlöcher

Wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, begegnen sie einander wie im Traum. Die Kariben etwa sahen, auf ihren Bäumen sitzend, die Schiffe des Columbus sich als reine Wunder nähern. Gezählt war das Jahr 1492, von seiten der Spanier, versteht sich, wogegen die Kariben wohl mehr eine Baumrechnung hatten und von ihren Bäumen aus die Wellen zählten. So wie in Ostdeutschland auch eine andere Zeitrechnung herrschte, ehe die Westdeutschen kamen. Die trotz identischer Jahreszahlen, trotz sogenannter Fünfjahrespläne, trotz der Anfeuerungsrufe unserer Häuptlinge („Vorwärts zum IX. Parteitag!“) – noch am besten beschreibbar mit der viel beliebteren Formel: „Das geht seinen sozialistischen Gang“ – was auch nichts anderes heißt als: „Komme ich heute nicht, komme ich morgen.“

Auf Bäumen saßen wir nur gelegentlich. Wie aber haben wir als Kinder die Chromschiffe unseres Onkels umstaunt. Und auch die Erwachsenen scheuten sich nicht, hinzuzutreten, um uns beim Staunen behilflich zu sein. Während Onkel und Tante langsam aus ihren Fahrzeugen stiegen und ihrerseits wie benommen zu den bienendurchsummten Linden aufblickten.

Besonders wunderte mich, daß sie auf einer Art Sofa über die Straßen hinfuhren. Wogegen mir vom Onkel nur mehr der Kopf hinter der Windschutzscheibe erinnerlich ist, der, merkwürdig gerundet, wie losgetrennt hinterm Lenkrad herschwebte.

Auch den Ureinwohnern Amerikas kam es anfangs vor allem auf die Fahrzeuge der Ankömmlinge an. Mit sämtlichen Segeln hielten sie die heranschwebenden Schiffe auf ihren Zeichnungen fest. Die Seile der Takelung, selbst das Steuerrad. Wogegen der Onkel eher schematisch dargestellt ist: wie er da an der Reling steht; der Kopf wie losgelöst, das Auge starr auf das Neuland gerichtet. Und stets noch ein Zusatzgerät mit sich führt. Das Rohr, durch das er schaute, das Rohr, durch das er schoß. Oder die Hängematte, in der er sich zum nächsten Stützpunkt tragen ließ.

Nein, nie haben wir unserem Onkel wirklich ins Herz gesehen. Warfen lieber einen Blick unter die Kühlerhaube. Ins gletscherartige Gleißen seines Ottomotors.

Das Wesen des Onkels war seine Dingverhaftetheit, seine technische Überausstattung. Fast gleichbedeutend mit Verfügungsgewalt. Durch die er für uns zu einem höheren Wesen wurde und für die Indianer zu Gott. Oder zu einem Verstorbenen, direkt aus dem Jenseits herübergesegelt, was auch seine furchtbare Blässe erklärte. Eine Deutung, die für uns erst durch den Unterricht in der Schule hinzukam: durch die Prophezeiung eines Häuptlings, der, zu Moskau tot aufgebahrt, unverrottbar auf die Erfüllung der eigenen Prophezeiung wartete: ausgerechnet das System, aus dem der Onkel käme, sei verurteilt zum Untergang; faulend, stinkend usw., letztes Stadium. – Kein Wunder, daß unser Onkel den Häuptling namens Lenin nicht mochte.

Auch die Eingeborenen mochten die Onkels bald nur noch teils. Denn – abgesehen vom sonstigen Verhalten – nicht mal richtig barfuß gehen konnten sie, geschweige denn auf Bäume klettern mit ihrem Gerätegerassel.

Wem die Technik zur Verfügung steht, der steht der Technik zur Verfügung. Eine Erkenntnis, die, wenn überhaupt, auch in uns erst spät, viel zu spät heraufgedämmert ist. Ohnehin hat bei uns Bewunderung stets vorgeherrscht, zumindest bis zu unserer eigentlichen Entdeckung, die, nach beiderseitiger Berechnung, erst im Jahre 1989 begann, das Sofaauto unseres Onkels also nur mehr ein Vorbote war.

Wie glaubhaft berichtet wird, ist auch der Onkel den neuen Ländern wie im Traum begegnet. Die Reise zu uns auch für ihn eine Zeitreise gewesen, eine Fahrt in die eigene Kindheit zurück. Was immerhin erklärt, weshalb er nach dem Ausstieg aus seinem schwankenden Gefährt wie benommen um sich schaute: auf die bienendurchsummten Linden, die ungepflasterte Vorstadtstraße, auf der ihm ein Huhn entgegenschritt. Worauf er uns natürlich gern die Kühlerhaube öffnete. Und anhand des Ottomotors die Entstehung des Fortschritts erklärte. Dessen Zylinder ihn selbst noch nie so beeindruckt hatten wie in dem Moment, als er mit uns den Kopf hinabbeugte und mit unseren Augen die Schläuche und Metalle sah. Staunend, wie wir staunen konnten. Und noch am nächsten Morgen ganz aus dem Häuschen waren, nur wegen seines Rasierapparates. Und stundenlang mit ihm am Kaffeetisch saßen, ohne daß einer aufsprang und von Termindruck sprach. „Gemütlich habt ihr es hier“, sagte er wieder und wieder, und wieder und wieder hat auch Columbus die Schönheit der Inseln beschrieben. Und für seine Majestät das Bild des edlen Wilden entworfen: zutraulich, bescheiden, leicht zu gewinnen, qualifizierbar, recht nett.

Nackt sind wir nicht gewesen. Doch immer war, was wir trugen, um Jahre hinter der Mode zurück. Und eben weil wir uns sehr bemühten, zeitgemäß angezogen zu sein, bezeichnete unsere Kleidung exakt die zeitliche Mindestdifferenz, die zwischen unseren Kulturen bestand. So daß die abgelegte Bluse meiner Tante bei uns wieder wie neu erschien. Und es mit ihrer Hilfe gelang, meine Mutter zu modernisieren.

Freilich, auch das Motiv der Nacktheit kommt vor. Zog doch im Sommer die Hälfte der Bevölkerung gleich an die Ostsee hinauf, wo sie in Zelten lebte und die Nacktheit teils gleich persönlich ausführte. Im Gegensatz zu unserem Onkel, der sie bei sich zu Hause nur mehr in Zeitschriften durchblätterte, großbusig, wie sie war. Noch heute ist auf Hiddensee sichtbar, ob einer von drüben kommt. Strandkörbe vor teureren Häusern aber kaum noch als Indiz tauglich. Westherkunft liegt erst vor, wenn noch die Badekleidung hinzutritt, die auch unter Wasser nicht abgelegt wird. Wogegen der Ostinsulaner im Zwieback seines Hinterns am Strand auf und nieder geht.

Ein Grauen war für Onkel unser Klopapier. Daher hielt er es bei späteren Reisen in die Vergangenheit immer so, daß er sich gleich sein eigenes mitbrachte. Das uns Kindern verboten war, damit es für ihn noch reichte. Probierten es trotzdem heimlich.

Das Wesen des Wilden: geringere Dingverknüpftheit, technische Mangelausstattung. Fast gleichbedeutend mit Arglosigkeit. Denn sicherlich wären wir lieber davongelaufen, anstatt in den Ottomotor zu schauen, hätten wir nur im geringsten geahnt, welche Verwüstungen er in unseren Köpfen anrichten konnte: ein eisiges Wahrbild von Mangelerfahrung.

Harmlos fing es an. Mit einigen Scherben und Perlen, wie bereits Columbus erzählt. Taschenmesser mit Nagelschleifer, extra scharfes Sägeblatt: Dinge, die uns natürlich fehlten und uns natürlich zu fehlen begannen. Fast lautlos traten Uhren hinzu, die, ganz von alleine tickend, uns zu jeder Stunde den Mangel an Zeit anzeigten. Bis – Eierkocher, Hüftschoner, Vibrationsgerät – uns zunehmend auch Dinge fehlten, die wir beim besten Willen nicht brauchten. Was konnte da der Onkel dafür? Im Gegenteil, er fragte sich auch, warum wir uns derartig freuten, wenn er in unsere Straße einbog und nach den Linden sah. – „Die meinen ja gar nicht mich“, dachte er, wenn er seine Sachen auspackte. Und wir sie wie selbstverständlich aus seinen Händen nahmen. Mit der hinzutretenden Nachbarschaft über einem Hula- Hoop-Reifen den Onkel selbst fast vergaßen, der auch gern einmal vorgeführt hätte, was in den alten Ländern ein Hula-Hoop-Hüftschwung war. Nie konnte er genug zu uns herüberschleppen. Bedenklich schwankte sein Chromschiff heran; kaum sitzen konnte die Oma auf ihrem Sofa hinten und mußte unter Koffern hervorgezogen werden. Dennoch ist unser Onkel immer wiedergekommen, in eine Vergangenheit, die ihm selbst immer trostloser wurde. Dafür sei ihm hier ein Denkmal gesetzt.

Die Haltung der Eingeborenen zur Frage des Eigentums fand auch Columbus bedenklich. Wo Geld keine Rolle spielt und es an allem, was es gibt, mangelt, nimmt man sich, was man kriegen kann, nach Möglichkeit gleich so. Noch der Berliner Fernsehturm, mit dem die Osthäuptlinge Kontakt zur Neuzeit herstellen wollten, soll zweimal gebaut worden sein. Indem dieselbe Materialmenge, die vertikal in der Röhre gerann, sich in Form von Eingeborenenhütten horizontal im Umland verteilte. Deshalb hat Columbus, kaum daß er an Land ging, fortwährend Wimpel aufgestellt. Und Dokumente laut vorlesen lassen, die den Eingeborenen von vornherein spanisch vorkamen.

Die Sprache der Wilden ist auch Columbus fremd gewesen. Trotzdem hielt er schriftlich fest, was sie im einzelnen gesagt hatten. Eine Frage des Selbstbewußtseins. Auch Cortez hat, etwas später, beim Pyramidenbesteigen, auf des Montezumas verwunderte Frage, ob er denn niemals müde würde, angestrengt nicht zu keuchen versucht. Positive Selbstdarstellung, ein Haupteroberungsmittel. Das aber auch zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen führen kann. Wer Gold sehen will, sieht Gold, und plötzlich ist die Entdeckung ein finanzielles Fiasko gewesen. Worunter auch Columbus litt, vor allem aber das Bild des edlen Wilden selbst: Mißmutig, voller Vorurteile, auf Anweisungen von oben wartend, verstand er auch die neuen, alleinigen Ideen nicht recht.

Der Kannibalismusvorwurf ist uns erspart geblieben. Undenkbar, daß wir auf Bildern wie auf denen des Malers Eckhout vorkämen: mit einem Korb auf dem Rücken, aus dem, wie ein Baguette, ein Arm oder ein Bein als Hauptnahrungsmittel ragt. Nur eine zu ihrer Zeit recht bekannte Schriftstellerin sprach, als Kennerin des Landes, von den großen, ekelerregenden Fleischpaketen, die unsereins aus der Kaufhalle trug. Und schon im entscheidenden Jahr 1989 beschrieb ein anderer Kenner des Landes, wie wir, nach der Absetzung unserer Häuptlinge, eben noch „edlen Blicks ... einer verheißungsvollen Zukunft entgegenzustreben schienen“, nun plötzlich „als Horde von Wütigen... mit kannibalischer Lust in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ... absichtsvoll in den Weg plaziert, wühlten.“

Sind wir so erobert worden? – Nun ja, den Antrag auf soziale Unterstützung lernten sogar wir ausfüllen in unseren neuen Bundesländern, obwohl er uns spanisch vorkam: Wenn schon Eroberung, dann vor vielen, vielen Jahren, beim Blick in den Ottomotor.

Das aber mag der wahre Grund sein, warum sich uns die wirklichen Götter niemals wirklich zeigen: aus gütiger Rücksichtnahme. Wie wir sie gar nicht sehen würden und dennoch werden wollten wie sie. Ihr mythisches Klopapier benutzen, in ihrem Sofaauto durch das Weltall schaukeln.

Der Text von Thomas Rosenlöcher ist ein Auszug aus dem Buch „Ostgezeter“, das dieser Tage in der edition Suhrkamp erscheint. 180 Seiten, 16,80 DM