"Ein grenzenloses Bücherregal"

■ Jeff Bezos hat vor zwei Jahren den Online-Buchversand Amazon.com gegründet. Jetzt will er sein Erfolgsgeschäft weiter ausdehnen und sucht nach einem zweiten Standort in Europa

taz: Manche Leute befürchten, daß wir bald keine Bücher mehr lesen, weil wir nur noch am Computer sitzen. Sie bieten unter www.amazon.com/ 2,5 Millionen Buchtitel online zur Bestellung an. Machen Sie sich keine Sorgen?

Jeff Bezos: Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen in Deutschland ist, aber in den USA ist der Fernsehkonsum seit Jahren zum erstenmal zurückgegangen. Ich sehe es viel lieber, wenn meine Kinder am Computer sitzen statt vor dem Fernseher.

Und das Buch stirbt nicht aus?

Der Tod des Buches wird seit Jahrzehnten vorausgesagt. Wenn er je eintritt, wird er nicht den Tod des Lesens bedeuten. Möglicherweise werden die Bücher aus Papier durch elektronische Bücher ersetzt, wie sie am MIT schon jetzt entwickelt werden. Das sind Bücher, die ständig mit neuen Texten aufgeladen werden können. Wenn es einmal so etwas geben wird, werden die Bücher, die wir heute kennen, langsam verschwinden. Aber soweit sind wir noch lange nicht. Alle elektronischen Versionen traditioneller Medien kommen nicht recht voran. Die Verteilung von Videofilmen über das Netz scheitert an der zu geringen Bandbreite der Verbindungen. Die Verbreitung von Büchern wäre kein Problem, aber sie scheitert am Bildschirm, dessen Technik noch sehr primitiv ist. Auf Papier gedruckt ist ein Text unendlich viel besser zu lesen als am Computer. Auch das wird sich mit der Zeit ändern. Doch heute wächst der Buchhandel immer weiter. Seit Gutenbergs Zeiten sind noch nie so viele Bücher verkauft worden.

Aber was wird aus der Buchhandlung, die es in Deutschland noch in jeder Kleinstadt gibt?

Die wird auch in den USA ein gutes Geschäft bleiben. In der nächsten Zukunft werden höchstens 15 Prozent der Bücher online bestellt. Es wird immer Leute geben, die Bücher anfassen wollen. Sie wollen ihren Geruch riechen und Seiten umblättern. Die Buchhändler haben herausgefunden, daß ihre Läden die Rolle des sogenannten dritten Ortes übernehmen. Sie sind weder das Büro noch das Wohnzimmer, sondern ein Ort, wo die Leute sich in aller Ruhe hinsetzen und sich über die Dinge informieren, die sie interessieren. Sie lesen Zeitungen, schauen Bücher an und trinken Kaffee. Interessanterweise ist das ein sehr sozialer Ort, obwohl wenig gesprochen wird. Die meisten sitzen nur vor der Zeitung. Trotzdem fühlen sie sich in Gesellschaft. Amazon.com verkauft nicht nur Bücher, sondern fordert seine Kunden dazu auf, in E-Mails ihre Meinung zu sagen. Auch Autoren beteiligen sich an der Diskussion. Ist das ein Ersatz für die Buchhandlung?

Nein. Buchhändler können Dinge tun, die wir nicht tun können. Sie können zum Beispiel Kaffee servieren. Aber sie können nicht jedem Buch einen Zettel aufkleben, auf dem steht, was andere Leser davon halten. Das können nur wir. Niemand kann künstlich eine Gemeinschaft erzeugen, aber unsere Kunden bilden tatsächlich eine Art Gemeinschaft. Sie helfen einander, Bücher zu finden und zu beurteilen. Damit geben sie ein Stück ihrer Persönlichkeit preis. Natürlich sind ihre Kritiken nicht vergleichbar mit Buchbesprechungen im Feuilleton. Manchmal sind sie schlechter, manchmal aber viel besser. Menschen finden sehr schnell heraus, ob sie einem Urteil vertrauen dürfen oder nicht.

Buchhändler von Beruf sind Sie aber nicht.

Nein, ich habe an der Princeton University Computerwissenschaften studiert und dann an der Wall Street gearbeitet – auch dort mit Computern. Was mich immer interessiert hat, ist die Verbindung von Computertechnik und Wirtschaft. Dann kam das Internet mit seinen Wachstumsraten von 300 Prozent. Ich habe mir überlegt, welche Güter man in diesem Netz zuerst verkaufen könnte, und kam darauf, daß Bücher dafür wohl am besten geeignet seien.

Warum?

In einer Hinsicht sind Bücher sehr ungewöhnlich: Es gibt unglaublich viele davon. Es gibt zwar auch sehr viele Einzelartikel in der Landwirtschaft, aber lange nicht so viele wie im Buchhandel. Das sind heute über drei Millionen Titel. An zweiter Stelle steht das Musikgeschäft mit seinen nur etwa 300.000 aktuellen Produktionen. Solche großen Zahlen sind genau das, was Computer am besten bearbeiten können. Sie können riesige Mengen von Einzelprodukten sehr leicht ordnen und bieten einen praktisch grenzenlosen Regalplatz, in dem man alles sehr schnell findet. Zur Zeit nutzen wir vor allem diesen unbegrenzten Platz und sind noch dabei, Suchtechniken weiterzuentwickeln, mit denen man auch eine Nadel im Heuhaufen finden könnte. Wir haben letzte Woche eine neue Version unserer Software vorgestellt und unsere Homepage völlig umgebaut. Sie können jetzt zum Beispiel auch nachfragen, wer außer Ihnen selbst Bücher aus einem bestimmten Sachgebiet bestellt hat. Diese Information ist sehr nützlich bei der weiteren Suche, und erstaunlicherweise funktioniert das System ausgezeichnet. Das Problem des Onlinehandels war ohnehin nie die Technik selbst. Computernetze gibt es schon seit zwanzig Jahren. Das Problem war der Zugang. Erst das World Wide Web hat es den breiten Massen möglich gemacht, das Internet zu nutzen.

Es gibt auch andere Online- Buchhandlungen. Warum ist gerade Amazon.com so erfolgreich?

Es kommt in jedem Geschäft darauf an, dem Kunden einen echten Wert anzubieten, für den er sich immer wieder entscheiden wird. Toys'R'Us zum Beispiel ist so erfolgreich, weil seine Auswahl im Bereich der Spielzeuge als hochwertig angesehen wird. Deswegen fragen wir unsere Kunden immer sehr genau, warum sie Amazon. com nutzen. Dann muß man sie davon überzeugen, daß es sehr einfach ist, bei uns genau das zu bekommen, was sie haben wollen. Als wir unser neues System getestet haben, das erlaubt, mit einem einzigen Mausklick ein Buch zu bestellen, haben viele Kunden das gar nicht glauben wollen. Sie haben protestiert, weil ihnen die Bestellung viel zu einfach erschien. Und schließlich hat der Preis zum Erfolg beigetragen. Wir sind wahrscheinlich der billigste Buchladen der Welt, ganz sicher aber der Vereinigten Staaten.

Sie bieten Bücher bis zu 30 Prozent unter dem Ladenpreis an. Wie ist das möglich?

Wir haben keine Kosten für Verkaufsläden und können mit vergleichsweise wenig Personal arbeiten. In einem Buchladen muß ja zum Beispiel immer jemand da sein, der die Bücher wieder richtig ins Regal stellt, die von den Kunden herausgenommen und dann falsch einsortiert worden sind. In Zukunft wird es noch viel wichtiger sein, die Suche nach dem richtigen Buch möglichst leicht zu machen. Die 20 Dollar, die Sie heute für ein Buch ausgeben müssen, sind nur der geringste Teil seiner Kosten. Die Zeit, die Sie damit zubringen, es zu beschaffen, ist viel teurer.

Im zweiten Quartal dieses Jahres hat Amazon.com 27,9 Millionen Dollar umgesetzt. Das ist ein Zuwachs um 74 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Jetzt wollen Sie Ihr Geschäft auch auf Deutschland ausdehnen.

Nicht nur auf Deutschland. Unser Ziel ist es, jedes Buch in jeder Sprache zu liefern. Englischsprachige Bücher liefern wir schon jetzt in jedes Land, natürlich auch nach Deutschland, aber auch in ein Land wie Slowenien, das insgesamt nur zwei leistungsfähige Leitungen zum Internet besitzt. Trotzdem gibt es dort Kunden, die regelmäßig bei uns bestellen. Aber die Auslieferung kann mehrere Wochen dauern. Wir überlegen deshalb, ein Verteilzentrum für Europa einzurichten. Auch für die USA bauen wir in Delaware ein zweites Lagerhaus, das etwa viermal so groß sein wird wie unser heutiges Lager in Seattle.

Andere amerikanische Webfirmen, zum Beispiel die Suchmaschinen Yahoo oder Lycos, haben sich für den deutschen Markt deutsche Partner gesucht. Mit wem will Amazon.com zusammenarbeiten?

Darüber kann ich jetzt noch nicht sprechen. Manche Joint- ventures funktionieren sehr gut, andere sind ein Desaster. Ich bin hierher gereist, um die Lage zu erkunden. Interview: Niklaus Hablützel