Er trug Stile wie Maßanzüge

■ Vom surrealistischen Bürgerschreck zum linientreuen Kommunisten. Vom Volksdichter zum Altersdandy. Louis Aragon vollzog viele Wandlungen. Am 3. 10. wäre er 100 Jahre alt geworden

Er stellte sich zur Schau und wahrte sein Geheimnis, er trug Masken, er war brillant und dunkel, er war das, was man nicht erwartet hatte, nämlich immer der gleiche“, heißt es in dem schmalen, sehr persönlichen Nachruf, den Stephan Hermlin anläßlich des Todes von Louis Aragon am 24.12.1982 in der DDR-Kulturzeitung Sonntag veröffentlichte. Für Hermlin blieb Aragon, von dessen Gedichten er sich in der französischen Internierung tief beeindrucken ließ, zeitlebens literarisches Vorbild; und so bezieht sich seine Charakteristik nicht allein auf den politischen Menschen und dessen spektakulären Wandlungen vom surrealistischen Bürgerschreck im Paris der zwanziger Jahre über den linientreuen Kommunisten, den integrativen Volksdichter der Résistance bis hin zum Altersdandy, der, hochbetagt, Paris mit seinem schwulen Coming- out überraschte, sondern auch auf das ästhetische Multitalent. Wie kaum ein zweiter bewegte sich Aragon in den Moden der Zeit, trug er die Stile wie Maßanzüge, selbst jene, die von der Stange der Parteiprogrammatik kamen wie der sozialistische Realismus.

In Frankreich schon vor seinem Tode als Gesamtkunstwerk gefeiert, hatte es Aragons Dichtung auf der rechten Rheinseite viel schwerer. Seit 1950 Mitglied des ZK der KPF blieb Aragon per se von der bürgerlich-literarischen Nobilitierung ausgeschlossen, und dies um so mehr, je nachdrücklicher sich die kulturgläubige, erziehungsbesessene Jung-DDR um sein Werk bemühte. So stammen die ersten deutschen Übersetzungen der zwischen 1934 und 1945 entstandenen Tetralogie „Die wirkliche Welt“ und des sechsbändigen Opus mit dem programmatischen Titel „Die Kommunisten“ (1949–1951) aus dem Osten, und wo Aragon in der Bundesrepublik „gerettet“ wurde, blieb, durchaus vergleichbar mit der Brecht-Rezeption, der einschränkende Hinweis auf sein anstößiges politisches Engagement nicht aus.

Ganz unbeteiligt war der am 3.10.1897 als Sohn eines Parlamentsabgeordneten in den „schönen Vierteln“ von Paris geborene Aragon an seiner reservierten Aufnahme in Westdeutschland indessen nicht. Zum einen machte er während und nach der deutschen Okkupation Frankreichs wenig Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegen alles Deutsche, was, nebenbei bemerkt, auch zu Differenzen mit seinem Adlatus Hermlin führte. Zum anderen beeilte sich der Dichter stets, seine jeweilige politische Konfession zumindest theoretisch mit seiner Dichtung in Deckung zu bringen. Dem Traité du Style (Abhandlung über den Stil) von 1927/28 – jenem grandiosen Feuerwerk surrealistischer Polemik – folgten Anfang der dreißiger Jahre, nach Aragons Konversion zum Kommunismus, wiederholt Überlegungen über den sozialistischen Realismus.

Dabei hat das Werk Aragons den Vergleich mit der ästhetischen Moderne nicht zu scheuen, nicht nur im Hinblick auf sein surrealistisches Hauptwerk „Pariser Landleben“, das als hervorragendes Exempel der von Walter Benjamin so bewunderten surrealistischen Beschreibung der Dingwelt, in „deren Mittelpunkt das Geträumteste ihrer Objekte, die Stadt Paris selbst“ steht, gelten darf. „Das Leben ist eine Sprache“, justiert Aragon im Traité sehr früh die Differenz von Bezeichnetem und Bezeichnendem, die Anfang der sechziger Jahre weit über die Literatur hinaus für Furore sorgen sollte.

Die kürzlich in den USA aufgefundenen Fragmente des Großprojekts „Die Verteidigung der Unendlichkeit“, mit dem Aragon den „Roman der Romane“ schreiben wollte, machen die avantgardistischen Anschlußstellen an die Literatur der Moderne einmal mehr evident. „Ich hätte“, läßt Aragon den Maler Géricault in dem 1958 entstandenen Roman „Die Karwoche“ erklären, „ein Maler dessen sein mögen, was sich ändert, des jäh erfaßten Augenblicks“ – des „Chocs“ im Sinne Benjamins.

Wie eng der Schreib- und Handlungsradius einer literarischen Galionsfigur wie Aragon in der Nachkriegszeit unter der Fuchtel der Partei gezogen war, offenbart die Affäre um ein Stalin-Porträt Picassos, das Aragon 1953 in der von ihm geleiteten kommunistischen Kulturzeitschrift Les Lettres Françaises veröffentlichte. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Schriftleitung und Parteisekretariat, weil die Zeichnung des „Genossen Picasso“ statt des „großen Stalin“ einen jungen, naiven Georgier zeigte und damit nicht den Kriterien sozialistischer Kunst entsprach. Aragon reagierte politisch opportun, indem er, begünstigt von einer künstlerischen Liberalisierungsperiode in der KPF, die Angelegenheit abwiegelte. Erst ab 1956 distanzierte er sich zunächst künstlerisch und vorsichtig auch politisch von der Stalin-Ära.

„Sein ganzes Leben hatte er darunter gelitten, einer Situation nicht gewachsen zu sein“, schreibt Aragon über sein Alter ego Aurélien im gleichnamigen, zwischen 1941 und 1944 entstandenen Schlüssel- und Liebesroman, der gleichzeitig eine faszinierende Parodie auf das surrealistische Künstlermilieu ist. Der Mensch in einer Situation, die prozessiert und ihn bestimmt, das Thema beschäftigt Aragon zeitlebens, und in Aurélien kondensiert er die Sozialpathologie seiner eigenen Generation, die, geprägt durch das „Kriegserlebnis“, bindungs- und orientierungslos durch das Provisorium der Pariser Halbwelt treibt, auf der Suche nach Sinn. Die Maske der Unbekannten aus der Seine, die den Roman leitmotivisch begleitet, birgt die Sehnsucht, das Geheimnis, den nicht erfüllten Traum des Künstlers: Frankreich, in der Allegorie der ertrunkenen Frau. Dieses untergegangene und wiederauferstandene Frankreich lohnt es in Aragons Werk, von dem kaum ein Titel in deutscher Sprache lieferbar ist, wiederzuentdecken. Ulrike Baureithel

Aus Anlaß des 100. Geburtstags von Aragon hat der Claassen Verlag, Hildesheim, den Roman „Aurélien“ zum Preis von 48 DM neu aufgelegt.