Kitschtrunkene Sehnsüchte

Familienbande II: Die 68er mal wieder an allem schuld? Individualisierung mal wieder schiefgelaufen? Für die Kritik an der Kleinfamilie gab es verdammt gute Gründe, von denen Familienidylliker nichts wissen wollen. Eine Antwort auf Alexander Arenberg  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Vor einiger Zeit hatte ich ein vermutlich recht typisches Gespräch mit einer Kollegin. Sie, ein antiautoritär erzogenes 68er-Kind, schwärmte von der Kleinfamilie, die sie grad gründen wollte. Ich fand Kleinfamilien, Kinderkriegen, Heiraten und solche Dinge gruselig. Abzulehnende, feiste und zumeist scheiternde Sinnstiftungsversuche usw. Nicht wie man vielleicht 68 dagegen war, also mit der Vorstellung, man müsse und könne eine antifamiliäre Gesellschaft errichten, in der alle sehr glücklich und unentfremdet dann leben würden, sondern eher auch überzeugt davon, daß eine Gesellschaft, die sich meine Privatvorstellungen zu eigen machen würde, aufs schärfste abzulehnen ist.

Jedenfalls redet man überall wieder gern über Familie. Alle paar Monate gibt es aufrüttelnde Meldungen von der Familien- und Reproduktionsfront: Immer weniger Kinder werden produziert, jede dritte Ehe wird geschieden, die Deutschen sterben aus, und die deutschen Spermajahrgänge sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Anstatt vor allem letzteres nun zu begrüßen, wird mittlerweile auch in der taz mit wichtigtuerischer Sorgenfalte gejammert. In dankenswerter Offenheit benennt der Berliner Medizinsoziologe Alexander Arenberg die Gründe.

Irgendwie sind wieder die 68er schuld. Sie seien nicht müde geworden, die unschuldige deutsche Kleinfamilie zu diskreditieren, sie hätten den Egoismus der Frauen befördert, die aus purem Egoismus abtreiben würden. Anstatt „unsere Küken“ schön zu behüten und ihnen „das kulturelle Erbe der Nation“ weiterzureichen, wollen sie sich asozialerweise in der Arbeit selbst verwirklichen.

Die von den 68ern beförderte schiere Selbstsucht hätte dazu geführt, daß der Haussegen schief hängt in der Keimzelle des Staates und jede dritte Ehe geschieden wird. Die von den 68ern beförderte antiautoritäre Erziehung sei nichts anderes gewesen als „Verweigerung von Verantwortung, Verweigerung von Kultur, Verweigerung von Geschichte“. Und so weiter und so fort.

Große Worte, und auch der Franzmann hat irgendwie schuld: „Die Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre war reiner Rousseau, gesellschaftsfeindlich bis in die letzte Orgasmusstörung, falsches Bewußtsein.“ Ob die Orgasmusstörung nun gesellschaftsfeindlich sei oder die Rede von Orgasmusstörungen, ist nicht so klar. Ein wenig kitschtrunkene Sehnsucht schimmert jedenfalls durch nach den geordneten Zeiten vor der Erklärung der Menschenrechte, in denen Männer noch Männer waren und die Frauen noch keine sexuellen Selbstverwirklichungsflausen im Kopf hatten.

Daß die Kritik an der Institution der Kleinfamilie und der deutsche Generationenkonflikt durchaus sehr reale, historische Gründe hatte, interessiert Arenberg nicht. Man mag es kaum wiederholen, doch die Elterngeneration der 68er waren eben die, die der Judenvernichtung tatenlos zugeschaut hatten; die, die meinten, sich durch Wirtschaftswunderaktivitäten von ihrer Schuld loskaufen zu können; die, die von ihren Kindern besondere Dankbarkeit verlangten dafür, daß sie sich ihr Leben lang blind „aufgeopfert“ hatten, wie es früher so schön hieß, als seien die Kinder schuld am verpfuschten Leben der Eltern.

Mit lustigen Sätzen wie „Kinder mit einem Willen / kriegen eins auf die Brillen“ wurden noch viele derer erzogen, deren Eltern im Naziregime sozialisiert wurden. Wenn's um antiautoritäre Erziehung ging, die Eriehung also, die, so Arensberg in der taz, zur „psychischen Verwahrlosung des Kindes“ führen würde, hieß es „ein paar hinter die Löffel hat noch keinem geschadet“ oder „aus uns ist ja auch was geworden“. Was geworden hieß: ständig arbeiten, Haus vom Mund abgespart, Auto, Kinder gemacht und einmal im Jahr in den Urlaub.

Kleinfamilien schützten sich vor allem Fremden

Als Kind beneidete ich die, deren Eltern sich um antiautoritäre Erziehung bemühten. Da ging es irgendwie freier zu, da war immer was los, die waren auch nicht so verklemmt und verschüchtert. Die Kleinfamilien, die ich kannte, schützten sich dagegen ängstlich mit hoher Schwelle gegen die „Fremden“, also alle, die nicht zur Familie gehörten. Da mußte man ständig guten Tag und bitte und danke sagen und mit den Eltern in gewöhnlich bedrückter Atmosphäre abendessen. Oder man schaute sich die eigenen Eltern an; den Vater, der sein ganzes Leben lang gearbeitet, nie blaugemacht, nie getrunken, nie geraucht hatte; oder die Mutter, die vom Großvater noch mit der neunschwänzigen Katze geschlagen worden war und ihr halbes Leben lang unter Depressionen litt; oder den Großvater, der bei der SS und dann beim DGB gewesen war und ab und an von schönen Urlaubsfahrten nach Griechenland oder Frankreich erzählte. „Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen.“ „Uns hat das auch nicht geschadet.“

Über dem Stadttor von Kloster Zinna hängt ein schöner Familienspruch: „Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet nachher selber Not, den schlage man mit dieser Keule tot.“ Einige Schulkameraden wurden noch richtig geschlagen. Später auf dem Gymnasium, wo man als Arbeiterkind ja nicht hingehörte, lernte man andere kennen, die auf raffiniertere Art von ihren Eltern erzogen wurden: mit schlechtem Gewissen vor allem oder halt damit, daß die Eltern eine Woche lang nicht mehr mit ihrem bösen Kind redeten.

In seinem Roman „Die Reise“ beschreibt Bernward Vesper sehr plastisch die Gewaltverhältnisse und die Verlogenheiten, von denen viele Nachkriegskindheiten geprägt waren und die 68 eben mehr wollten als einen irgendwie beliebigen und vom Egoismus getriebenen Generationskonflikt mit schwachsinnigen Orgasmusdiskussionen in verdreckten Kommunen, minderwertiger Beatmusik, Haschrauchen und totalitären Gesinnungen.

„Ehe will nur eines: Familie. Alles andere ist dem zu- und untergeordnet“, stellt Alexander Arenberg fest. So als sei Ehe eine Organisationsform, deren Willen gänzlich unabhängig sei von den Wünschen der an ihr Beteiligten. So was liest man dann und reibt sich die Augen. Vermutlich wird es dem Medizinsoziologen gefallen, daß Ehefrauen sich durchschnittlich sieben Jahre von ihren Ehemännern schlagen lassen, bevor sie – wenn überhaupt – außerhalb der trauten Kleinfamilie um Hilfe nachsuchen und sich möglicherweise scheiden lassen, in dem modernistischen Irrglauben befangen, es ginge in der Familie um „Liebe“ oder auch „individuelles Glück“.

Darum hat es natürlich nicht zu gehen. Familie sei die „Metapher unserer intimsten Utopien“, in der Familie verkörpere sich die „Einheit von Animalität und Spiritualität“, sie sei gleichzeitig das, „was uns von Heimat geblieben ist“, und irgendwie auch „göttliche Zukunft“. Dagegen steht dann das böse, selbstbezügliche, atomisierte Individuum, das keinen Gedanken auf die Zukunft verwendet. Daß die Entstehung dieses Individuums möglicherweise auch was mit der Industrialisierung zu tun haben könnte, daß die entfremdende Individuation schon bei Nietzsche, die sogenannte geschichtsvergessene Selbstbezogenheit des großstädtischen Menschen, gerade auch von den Naziideologen denunziert worden war, daß die Stimmanteile der Nazis gerade in ländlichen Gebieten, in denen die Blutsbande hochgehalten wurden, besonders hoch waren, interessiert Arensberg nicht.

Glückliche Kindheiten bei Alkoholikers?

Mit tremolierendem Unterton raunt er statt dessen was von „Geschichte“, auf die die dekadente Gesellschaft verzichte, die aufs schnöde Jetzt setze. Das ist dieser Pfaffenglaube von der allmählichen Vervollkommnung des Menschengeschlechts, den man angesichts weltweiter Umweltzerstörung und der großartigen Geschichtsmachversuche dieses Jahrhunderts nicht so recht teilen möchte. Für die konkreten Kleinfamilienverhältnisse, die sich nur in Teilen der Gesellschaft verändert haben dürften, interessiert sich Arensberg jedenfalls nicht die Bohne. Glückliche Kindheiten bei Alkoholikers (2,5 Millionen Alkoholiker, 1,5 Millionen Tablettensüchtige in Deutschland), Rassisten oder in Arbeitslosenfamilien sind eher unwahrscheinlich. (Darum ginge es ja nicht, doch um was geht es denn sonst?) Und selbst wenn nur jedes 15. und nicht jedes 5. – wie diverse Familienberater meinen – Kind in der Kleinfamilie vergewaltigt wird, so spricht das nicht unbedingt für die Alternativlosigkeit der Kleinfamilie als gesellschaftlicher Institution.

In seiner Erzählung „Gehen“ schreibt Thomas Bernhard: „Tatsächlich fragen sich diese Leute nichts, wenn sie ein Kind machen, obwohl sie doch wissen, daß ein Kind machen (...) nichts anderes als Infamie ist. Und ist das Kind gemacht (...), lassen die, die es gemacht haben, sich das von ihnen aus freien Stücken gemachte Kind vom Staat bezahlen. Für diese Millionen und Abermillionen von ganz aus freien Stücken gemachten Kindern muß der Staat aufkommen, für die, wie wir wissen, vollkommen überflüssigen Kinder, die nichts anderes gebracht haben als neues, millionenfaches Unglück. Die Geschichtshysterie (...) übersieht aber den Umstand, daß es sich bei allen gemachten Kindern um gemachtes Unglück und um gemachte Überflüssigkeit handelt. Diesen Vorwurf kann man den Kindermachern nicht ersparen, daß sie ihre Kinder völlig kopflos und in der gemeinsten und niedrigsten Weise gemacht haben.“