"Das heißt hier nicht Sackerl!"

■ Christoph Burtscher, 31, Psychologe und Österreicher, fühlte sich in Ostberlin an die Enge des Vorarlbergs erinnert

Der Versuch, in Wien zu leben, war gescheitert, und in Innsbruck, wo ich studiert hatte, wollte ich nicht bleiben. Und zurück nach Vorarlberg? Um Himmels willen! Der katholische Alpengebirgsstumpfsinn hatte mich ja gerade von dort vertrieben. So bin ich nach Berlin gekommen, im Frühjahr 1993, zuerst in einen Randbezirk, dann nach Kreuzberg. In Österreich haben Bekannte zu mir gesagt: Kreuzberg ist der beste Zufluchtsort, den es in Berlin gibt. Deutschland war mir nie ganz fremd. Meine Mutter ist Deutsche.

Ich war also in Kreuzberg, in der Nähe der Bergmannstraße, wo viel Leben ist, ringsherum schöne alte Häuser. Wenn ich aus dem Fenster schaute, hat mich von der Hauswand gegenüber der Olympiabär angeglotzt. Später habe ich ihn im Osten als aufgespießten Grillbären wiedergesehen, an der Wand eines besetzten Hauses. Das fand ich witzig.

Ich habe Kreuzberg als angenehm empfunden, gerade auch, weil hier sehr viele Südländer leben. Wegen meiner Aussprache werde ich immer wieder mal für einen Südländer gehalten. Obwohl das Vorarlbergerische wie Schwyzerdütsch klingt und nicht wie das Deutsch eines Südländers. Nach vier Monaten mußte ich raus aus der Wohnung. Über eine Mitwohnzentrale habe ich was im Prenzlauer Berg gefunden.

Natürlich hatte ich ein Bild vom Osten. In der Schule war die DDR kommunistisches Feindesland. Ich habe versucht, dem Land Wohlwollen entgegenzubringen. Im Nachhinein muß ich sagen: Um nichts auf der Welt hätte ich in der DDR groß werden wollen. Weil ich glaube, der Familienmief war da mindestens so ausgeprägt wie in Österreich. Der neue Osten war für mich auch der Schlägerosten. Von fast allen Schwulen hatte ich gehört, daß man in Berlin nicht allein weggehen kann, daß es Übergriffe von Neonazis gibt. Ich muß aber auch sagen, während der Zeit in Kreuzberg war ich kaum im Osten. Eines Tages schlage ich die Zeitung auf und lese: In Prenzlauer Berg sind Engländer von Neonazis ins Koma geschlagen worden. Na wunderbar, dachte ich mir. Und dahin willst du ziehen?

Ich bin im Herbst 93 umgezogen. Als ich dann im Osten Leute kennengelernt habe, waren das meist Westler. Woran das lag, kann ich nicht wirklich sagen. Sicher hatte das auch damit zu tun, wie ich selbst auf Leute zugehe. Und damit, wie die Leute mich behandeln. Ich bin zum Beispiel öfter in einer Schwulenkneipe gewesen. Da waren die Leute meist in Cliquen, ich habe allein rumgestanden, habe geguckt, was läuft – und bin wieder gegangen.

Einmal kam ich ziemlich fertig aus Wien zurück, bin im Prenzlauer Berg in eine Bäckerei gegangen, habe Brötchen gekauft und zu der Frau gesagt: „Ein Sackerl bitte“. Wie die mich zurechtgewiesen hat! „Das heißt hier nicht Sackerl, sondern ist 'ne Tüte, junger Mann“. Die Berliner Schnauze hat mich in dem Moment wohl deshalb so aufgeregt, weil sie sehr wohl verstanden hat, was ich meine. Tendenziell kommt es mir so vor, als würde man im Osten mehr zurechtgewiesen werden als im Westen. Man kann schlechter bei Rot über eine Kreuzung gehen, ohne daß jemand das Maul aufreißt. Genervt hat mich auch die Tram. Mal kam sie, mal nicht, pünktlich war sie nie, und man mußte immer gucken, wo sie gerade hinfährt, weil überall gebaut wird. Die Ostler sind da viel gleichmütiger oder scheinen sich ans Endlos-Warten gewöhnt zu haben. Ich konnte mich nie daran gewöhnen. Einmal war im Haus zwei Monate das Gas abgestellt, die Leitungen waren leck. Die anderen Hausbewohner haben das mit einer Engelsgeduld ertragen und gesagt: „Okay, je länger das geht, um so weniger Miete müssen wir zahlen.“ Es war Frühling, es war noch kalt, und ich konnte nicht heizen, nicht kochen, konnte nicht warm duschen.

Natürlich habe ich in der Zeit im Prenzlauer Berg auch ein paar Ostler kennengelernt, aber bis auf einen Kontakt hat sich nie was Beständiges ergeben. Jetzt gibt es eigentlich niemanden mehr, zu dem ich noch Kontakt habe. Auch nicht zu Ralf, einem guten Freund. Bei ihm hatte ich den Eindruck, er ist unzufrieden mit allem. Die Wohnung war ihm nicht gut genug – obwohl sie nicht schlecht war. Er fühlte sich immer benachteiligt, hat geglaubt, er kommt zu kurz. Vielleicht ist es ja so, daß es Ungerechtigkeiten gibt zwischen Ost und West. Aber ich denke, die Ungerechtigkeit verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen wohlhabend und weniger wohlhabend.

Der Osten wird einmal der bessere Westen. Er ist schon auf dem besten Wege dazu. Das harmloseste Beispiel dafür sind die Darkrooms. Die gibt's mittlerweile fast in jeder Ost-Schwulenkneipe. Der Bezirk Mitte ist schon die Ausgeburt des schrecklichen Westens: Kneipe an Kneipe, ein Designergeschäft neben dem anderen, die Hackeschen Höfe sind übersaniert – eine einzige Touristenfalle das Ganze.

Ende 95 – nach zweieinhalb Jahren – bin ich weggezogen aus Prenzlauer Berg. Ich konnte mir die Untermietswohnung nicht mehr leisten. In Neukölln, im Westen, hab' ich was Bezahlbares gefunden. Aber mein Bezirk ist Neukölln nicht. Allein wenn ich die viele Kampfhunde auf der Straße sehe ... Das Gute an Neukölln ist lediglich die Nähe zu Kreuzberg.